Sonntag, 11. Februar 2007

11: Dämonologie der Vorstädte



Eine Art, Macht – oder wenigstens Glamour – zu gewinnen, ist durch Terror. Das ist ein altbekannter Grundsatz, den die Politiker des 20, Jahrhunderts bis zum Erbrechen praktiziert haben. Heutzutage geht man postmoderner vor, und man gewinnt Macht durch Horror.

Nur haben die meisten Menschen wenig Ahnung davon, wovor es den Menschen wirklich graust. Oder anders gesagt: Sie sind zu feige, sich dem allumfassenden Grauen der Existenz zu stellen und flüchten sich in angenehmen, jedoch wenig bedrohliches wohliges Schaudern. Es gibt genug Leute, die sich in den Posen der Schauerromane des 19. Jahrhunderts (der ‚gothic novels’) gefallen, all diesem Geschwafel von byronesken Gestalten, die vom Schicksal gekennzeichnet ihrem wenn schon unausweichlichen, dann wenigstens dramatischen (können wir ‚filmreif’ sagen, Jungs und Mädchen?) Untergang entgegen sehnen. Aber die Zeiten, in denen die Freuden der Opiumsucht oder die Ästhetik des Syphilitikers ausreichten, um aufzufallen, sind längst vorbei. Vampirismus ist längst kein Synonym des satanischen Lebensstils mehr, der Mainstream hat wie immer alles aufgefressen, was ihm im Wege stand. sich als Protagonist der Zivilisationsverdrossenheit oder der selbst gewählten Decadénce herauszuputzen, sind längst vorbei.

Versuchen Sie einmal, die Gottform echten Urbanen Horrors anzunehmen. Werden Sie für ein Wochenende zu dem, was man nur in der Zeitung oder im TV ertragen kann, aber sofort auf die andere Straßenseite wechselt, wenn es einem direkt gegenübersteht. Der stinkende Penner, der mit den Maden in seinem Blechnapf Zwiegespräche führt; der Typ mit der Hockeymaske und dem verdammt großen Messer; der Junkie, der Stricher, der Skinhead, der Irre, der Dämon, das Gesicht in der Menge, das Deinen Blick auffängt und Dich aussaugt, bis nichts mehr da ist als eine leere ausgedörrte Hülle des Grauens.

Nun will ich niemandem wirklich empfehlen, sich für die Dauer eines Experiments von zweifelhaftem Nutzen auf Bahnhofsklos abgebrochene Nadeln in die Vene zu rammen oder die Freuden rektaler Vergewaltigung im Schatten schmieriger Trenchcoats zu erleiden, den Dämon der Strassen können wir auch durch einfachere Mittel invozieren.

Benehmen Sie sich einfach mal für ein Wochenende wie sie als pickliger Pubertierender immer sein wollten, und laden sie ein paar Kumpels dazu ein. Schlürfen Sie laut und fluchend schon morgens ihr erstes Bier – je billiger und ekelhafter, desto besser, dann haben Sie abends noch mehr davon. Stellen Sie sich selbst ins soziale Abseits, es muss ja nicht gleich in einen Ringkampf mit der Polizei ausarten. Und genießen Sie (sofern Sie dem noch zugänglich sind), die teils faszinierten, teils angeekelten – aber immer aufmerksamen - Blicke des Restes der Menschheit. Nach einiger Zeit werden Sie bemerken, dass sie in ganz andere Bereiche der Stadt – und der städtischen Gesellschaft – gelangen.

Derjenige, für den das noch nicht manisch genug ist, der aber auch den Schmutz scheut, kann ich ein Experiment in Sucht vorschlagen. Das ist einfacher und für den Körper ungefährlicher als es klingt, denn schließlich hat jeder von uns seine Süchte. Lassen Sie einfach eine Ihrer Vorlieben ins Manische mutieren – am besten suchen Sie sich etwas relativ sinnfreies und insgesamt ungefährliches aus, und dann lassen Sie alle ihre Emotionen Amok laufen und widmen Sie sich nur noch dieser einen Sache. Werden Sie ein Sammler. Sammeln Sie alles, was es davon gibt. Lernen Sie alles, was es darüber zu wissen gibt. Verwenden Sie alle Zeit, die Sie haben, darauf. Und die Zeit, die Sie nicht haben, denken Sie daran. Beginnen Sie, auch in den unpassendsten Momenten und zu jeder Gelegenheit Freunden und Bekannten von diesem einen Ding, seiner Bedeutsamkeit und ihrer großen Liebe dazu zu erzählen.

(Vielleicht misslingt das Experiment ja und Sie starten einen Trend. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass man ihnen nach dem vierzigsten Vortrag über über ihren Abgott beginnt, aus dem Weg zu gehen, sobald wieder dieses merkwürdige Glitzern in Ihre Augen tritt.) Sehen Sie nur noch dieses eine Ding. Hören Sie nur noch dieses eine Ding. Atmen Sie nur noch dieses eine Ding. Essen Sie nur noch dieses eine Ding. Irgendwann gibt es nur noch dieses eine Ding und Sie. ‚Freunde’ werden sich verleugnen, Verwandte die Familienbande lösen – aber dies kann ganz heilsam sein. Man braucht nicht die ganze Welt hinter einem, und überhaupt, was sind das für Freunde, die einen so schnell fallen lassen, sobald eine einzige winzige Kleinigkeit wie schleichender Wahnsinn zwischen Ihnen steht?)

Sie werden sehr schnell sehen, wie leicht es Ihnen fällt, in die Person eines manischen Irren mit fortschreitendem Realitätsverlust zu schlüpfen. Glücklicherweise ist es nur ein Experiment. Hoffentlich kriegen Sie die Kurve, viele Leute, denen sie täglich auf der Strasse begegnen, haben es nicht. Vielleicht genießen Sie in Zukunft die Momente geistiger Klarheit und Achtsamkeit, über die Sie verfügen, etwas mehr.

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