Die Saga um Kull ist nicht umfangreich, und von der Geschichte halb vergessen. Zu Lebzeiten von Robert E. Howard wurden nur „Das Schattenkönigreich“ (Weird Tales, August 1929), „Die Spiegel des Thuzun Thune“ (Weird Tales, September 1929) und „Herrscher der Nacht“ (Weird Tales, November 1929) veröffentlicht; es ist wahrscheinlich, dass Howard sich mit der Figur Kulls in der Zeit zwischen 1926 bis spätestens 1930 beschäftigte. Als Howard sah, dass seine neue Figur, Conan, weitaus besser in den Geschmack der Leserschaft und des Zeitgeistes eingliederte, konzentrierte er sich in seinen phantastischen Erzählungen zunehmend auf den Cimmerier, während seine früheren Charaktere keine neuen Abenteuer mehr erlebten. Übriges Material blieb fragmentarisch – die auf diesen Fragmenten basierenden Pastiches von Lin Carter können von einem puristischen Standpunkt bestenfalls als „Legenden“ anerkannt werden.
Dabei ist Kull eine ungleich interessantere Gestalt als Conan, in dem manche einen Zweitaufguss von ihm sehen mögen, weil die erste Conangeschichte („The Phoenix on the Sword“) zu weiten Teilen eine Neufassung einer Kullgeschichte ist („By This Axe I Rule“). Während Conan ganz konsequent (man könnte auch sagen primitiv) die Rolle des Alpha-Männchens in allen gesellschaftlichen Positionen und Situationen auslebt, in die er gerät, haben die früheren Gestalten Howards, einen düsteren, introvertierten, „keltischen“ Zug, was im Falle der übervirilen Projektionsgestalt Conans mit seinem permanenten Dominiergehabe kaum noch der Fall ist.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Kull. Kull ist gewiss einer der grössten Kämpfer seiner Epoche, und in manchen Zügen ein genauso tollkühn und übermenschlich wie Conan, er hat aber auch in sich gekehrte und selbstzerstörerische Züge. Es ist nicht so sehr ein Barbar, der mit der Zivilisation in Spannung lebt, sondern ein „Wilder Mann“, der keinen Zugang zur menschlichen Gemeinschaft findet. Man kann hier eine gewisse geistige Verwandtschaft zu Figuren wie Tarzan aufweisen, auch Kull wuchs ohne grosse menschlichen Kontakte auf. Aber die Gestalt des Kull ist düsterer als die Tarzans, er neigt zum Grübeln, und seine introvertierte Aussenseiterposition macht es ihm leicht, sich selbst der Welt zu entrücken. Er ist ein „Fremder in einem fremden Land“, auch wenn er der König ist.
Es ist kein Wunder, dass das Grundthema vieler der Erzählungen, die von ihm handeln, das Aufbegehren – und die Hilflosigkeit – eines Individuums gegen die gesellschaftliche Grundordnung selbst sind. Tatsächlich finden wir in Kull mehr autobiografische Züge des Autoren als in allen seinen anderen Figuren. In ihm sich vor allem Howards Missbehagen gegen die erdrückende Ordnung seiner kleinstädtischen Herkunft, sein Elternhaus, die sogenannte Lebensplanung, die von ihm empfundene Unfreiheit des Berufslebens (was auch in seinem Gedicht „Cimmeria“ zum Ausdruck kommt – ein Echo der antiken Sage des sonnen- und freudlosen Kimmeria, die Lebensfinsternis, der sowohl Kull und Conan, als auch Howard zu entfliehen suchten.)
Diese beiden Charakterzüge – der proaktive Krieger und der introvertierte Aussenseiter – dominieren auch die interne Struktur der Erzählungen. Als ganzes ist die Kull-Saga „Sword & Sorcery“ (Heroische Fantasy), Schwert und Zauberei, aber da wo der Krieger im Vordergrund steht, dominiert das Schwert, und die daraus resultierenden Geschichten enthalten kein Fantasy-Element, sondern sind reine Action, historische Erzählungen aus einer unhistorischen Zeit („Herr von Valusien“, „Verrat am König„). Aber wo der introvertierte Aussenseiter im Vordergrund steht, dominiert die Fantasy und ergibt so zauberhafte Erzählungen wie „Die Spiegel des Thuzun Thune“ oder „Nur einen Gongschlag lang“, in denen Howard seinen ansonsten so kraft- und actionreiche Duktus soweit zurücknimmt, dass der resultierende entrückte, fast esoterische Stil schon vergleichbar ist mit den Märchen von Lord Dunsany oder vielleicht H.P. Lovecrafts „Traumwelt“-Erzählungen.
Insgesamt kann Kull als eine Übung angesehen werden, in der Howard nach einem ureigenen Stil suchte, die geschickte Vermengung von „Sword“ und „Sorcery“, für die Conan so gerühmt wurde, dass er ein eigenes Subgenre erschuf. Von den Erzählungen um Kull ist vielleicht „Das Schattenkönigreich“ die einzige, in der beide Elemente in einem angemessenen Gleichgewicht sind, was jedoch die anderen Qualitäten des Restes der Serie nicht in Frage stellen soll. Aber im „Schattenkönigreich“ ist das übernatürliche Element subtil, und doch erschreckend – die Schlangemenschen von Valusien, die jede menschliche Gestalt annehmen können – die (Er)lösung jedoch bringt das Schwert in der Hand der Helden. Dies hätte die erste Conangeschichte werden können, aber dennoch unterscheidet sie etwas wohltuend von den Abenteuern des unerschütterlichen Cimmeriers: Selbst Kull ist sich nicht sicher, dass er die erste Nacht auf dem Thron des Purpurreiches überleben wird.
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