Mittwoch, 8. März 2006

Bücher :: Der innerliche Schmerz beim Lesen von vier Seiten ‚Sakrileg’

Ein unglücklicher Zufall hat mir vor einigen Monaten die Bücher von Dan Brown auf den Schreibtisch geworfen, die sich monatelang auf den Bestsellerlisten hielten und für viel Empörung und Entzücken sorgten. Natürlich, ein Buchtitel wie Sakrileg ist ein Selbstgänger. Bereits das erste Erwähnen des Titels erzeugt eine Welle wohlgefälliger Emotionalität, für die man den Verlag, der sich die Rechte an diesem Titel sicherte, nur beglückwünschen kann.

Mmmhhmmm, Gotteslästerung…

Und tatsächlich, zu lästern gibt es vieles…

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Wie jedermann, der einmal einen auch nur flüchtigen Blick in die Seiten von Baigent und Leighs „Die Erben des Grals“/“The Holy Blood and the Holy Grail“ geworfen hat, gibt es einen ganzen Schwung von Verschwörungstheorien, unverifizierten Behauptungen und post-urbanen Legenden, die irgendwie mit dem Heiligen Gral bzw. der Nachfolge Christi zusammenhängen. Ich glaube, im weltweiten Netz findet man eine Menge darunter unter dem Stichwort „merowingische Tradition“ oder so. Da Baigent und Leigh unzweifelhaft… hüstel… nachgewiesen haben, dass die alten Könige Frankreichs, die Merowinger, direkt von Jesus Christus und seinem Weibe, Maria (Magdalena) abstammten… Dieses geheime Wissen ist glücklicherweise nie verschollen gegangen, sondern wurde durch die Blutlinie Jesu und ihre Hüter bis heute treulich verwahrt.

(Ironie am Rande… nach diesen Quellen gehörten zu den Grossmeistern dieser Hüter sowohl Leonardo daVinci und Jean Cocteau, die beide nicht nur geniale Künstler, sondern auch grosse Homos waren… schwingt da ein wenig Häme gegen die Person unseres Erlösers mit? Hmmm?)

Und dies ist im grossen und ganzen auch der Plot von ‚Sakrileg’. Wirklich lästerlich. Das heisst nämlich, dass man mit einer dünnen, eher spannungsarmen Handlung, die sich an einem Geflecht von Verschwörungstheorien, unverifizierten Behauptungen und post-urbanen Legenden entlangkämpft, locker in die Bestsellerlisten kommen kann. (‚Illuminati’ liest sich ähnlich, nur ohne Gral…)

Der Autor foltert unser Interesse, in dem er vor unseren Augen mit Grössen der europäischen Kultur herumwedelt. „Sieh mal“, zischt er, „Leonardo! Ja, Leonardo, der grosse Leonardo, ihr habt ihn alle nicht verstanden – der hat uns geheime Botschaften hinterlassen! Escht! hahaha… und nur ich weiss, wasse bedeuten…“ Solcherart angelockt sinkt man also in die Knie und schluckt ein wenig Staub…

Wie ist es mit Leonardo? War die Mona Lisa ein Selbstbildnis einer genialen Tunte? Nein, das ist Thema anderer Verschwörungsfanatiker. Aber die Felsgrottenmadonna, die Leonardo 1483-1486 für die „Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis“ malte, das ist was anderes. Lockere Fanatiker, die ihrer zeit weit voraus waren… Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis betrifft nämlich nicht die geheimnisvolle Geburt Christi, sondern die wundersame Geburt Mariä (Parthenogenese?), eine Idee, die zum Eckpfeiler des Marienkultes wurde, aber erst 1854 (!) von der Katholischen Kirche als Dogma proklamiert wurde.

Nehmen wir den Autoren beim Worte…

„Leonardo da Vinci hielt sich zwar an die Vorgaben, doch als er das Gemälde ablieferte, reagierte die Bruderschaft mir Entsetzen. Er hatte das Bild mit einer Fülle unannehmbarer brisanter Details versehen. Das Gemälde zeigte die sitzende Jungfrau Maria in einem blauen Gewand, den ausgestreckten rechten Arm um ein Kleinkind gelegt, vermutlich Jesus. Dem Kind gegenüber sitzt Uriel, ebenfalls mit einem Kleinkind, vermutlich Johannes der Täufer. Im Gegensatz zu den üblichen Szenerien, in denen Jesus den Johannes segnet, scheint hier seltsamerweise Johannes Jesus zu segnen - und Jesus lässt es geschehen. Noch weniger annehmbar war, dass Maria die Hand mit unverkennbar drohender Gebärde über den Kopf des kleinen Johannes hält, wobei ihre Finger wie Adlerklauen erscheinen, die einen unsichtbaren Kopf gepackt haben. Und schließlich das unverblümteste und Furcht erregendste Detail: Genau unter Marias gekrümmten Fingern macht der Erzengel Uriel mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine tranchierende Geste, als wolle er dem von Marias klauenähnlicher Hand gepackten imaginären Kopf die Kehle durchschneiden.“

Soweit, so gut. Dieser finstere Leonardo… kleine Kinder zu tranchieren, ob nun unsichtbar oder nicht, das geht ja wirklich nicht. Die Wahrheit ist, dass das Bild tatsächlich nicht den Brüdern der Unbefleckten Empfängnis zusagte, und anstelle ihrer eine „entschärfte Version“ von Leonardos Schüler Giovanni Ambrogio de Predis auf den Altar kam. Nicht so genial wie Leonardos Version, vor allem was die Vegetation und die geologischen Formationen betrifft, aber dogmenkonformer. Diese Version hängt nun in der National Gallery in London, während die Originalversion im Louvre hängt, gerade recht um von Dan Browns unerschrockenem Helden zum ‚Sakrileg’ gefunden zu werden. Eine hübsche Geschichte, und der Leser geht atemlos zum nächsten Punkt der lästerlichen Geschichte weiter… nähme man sich die Zeit und würde sich das beanstandete Bild einmal selbst ansehen, würde man es aus der schauerlichen Beschreibung des Autoren kaum wiedererkennen… der narrative Imperativ hat wohl alles ein wenig verzerrt… Visionen des Todes…


Bei nüchterner Betrachtung wirken die Finger von Marias Hand weder wie Adlerklauen, noch deutet der Zeigerfinger des Uriel auf irgendeine Weise aufs Tranchieren hin. Ein imaginäres Picknick von Theophagen findet nicht statt. (Klingt auch ein wenig an den wallenden Haaren herbeigezogen – selbst wenn man den Theorien der Merowinger folgt, um welches Kind sollte es sich handeln? Und warum sollte eine Maria Mithilfe am Zerstückeln eines ihrer göttlichen Kinder leisten?) Der unsichtbare Kopf ist vor allem dies – unsichtbar. Blühende Phantasie, die in die Abgründe der Überinterpretation gestürzt ist?

Man könnte der Geste der Maria vielleicht eine Bedeutung zuschreiben – leider bin ich in den subtilen Tiefen christlicher Ikonographie nicht so bewandert, um dies gewährleisten zu können. Was hat die Hand zu bedeuten? Wem gilt sie? Sie ist in Richtung des deutenden Engels gestreckt – soll sie ihn aufhalten? Wenn ja, warum? Gilt es ein Geheimnis zu bewahren?

(Man sieht, es ist ziemlich einfach, den atemlosen Stil des Verschwörungstheoretikers zu emulieren… schnell, schnell, lesen sie weiter, bevor der Vatikan diese Zeilen löschen lässt…)

Auffällig auf jeden Fall ist, dass der deutende Zeigefinger des Engels (?) zu den Punkten gehörte, die das Bildnis für die Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis inakzeptabel machten – er fehlt in der groben Nacharbeit von Leonardos Schüler. Vielleicht liegt hier einer der Punkte, in dem Leonardo seine unorthodoxen Auffassungen genial versteckt hat. Denn der Zeigefinger des Uriel deutet nicht nur in die Richtung des seltsam beigeordneten Jesuskindes, sondern vor allem auch auf die sitzende Maria (und um welche Maria handelt es sich eigentlich?), genau genommen auf ihren Schoss. Eine geheime Botschaft?

Oder bloss Häme des chronischen Aussenseiters Leonardo, der nicht nur das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariä ad absurdum führen wollte, sondern auch das von der Jesu, indem er auf den dunklen Ort hinwies, in dem jedes Leben seinen Ursprung nahm. Ein Ort, der ihm trotz seiner Homosexualität mehr als vertraut war, er hatte schliesslich während seiner anatomischen Studien genug Leichname sezieren und dokumentieren können.

Der Spott des Wissenschaftlers über die esoterischen Dogmen einer verkommenen Zeit?

Was für ein Bild hätte er sich dann wohl von ‚Sakrileg’ gemacht?


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Ein kleiner, aber bedauerlicher Fehler hat sich oben eingeschlichen, das Buch von Baigent/Leigh heisst natürlich The Holy Blood and The Holy Grail, nicht The Holy Blood and The Holy Gral, ich hab's mal nacheditiert, aber in den Suchmaschinen vertippt sich der eine oder andere auch, deswegen lasse ich es hier mal stehen... das Thema scheint doch recht relevant zu sein, und nicht nur für die Angehörigen der wahren Blutlinie Jesu.

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