Samstag, 19. Mai 2007

Amadeus auf der Flusswelt (8)

Keine Fortsetzung von Nemed House: Amadeus auf der Flusswelt (7)

Der Leser ist ein Spanner, ist ein dunkler Komödiant, in seiner dunklen Anonymität, in seinem Eindringen in die Palimpseste des Seelenlebens des Autoren, seine Geheimnisse. Er ist bemitleidenswert allein, aber fähig, durch diese selbe Stille einen unbekannten Partner jederzeit ohne Vorwarnung zu durchdringen, zu vernichten oder zu vergewaltigen. Dies ist seine Drohung, die Macht seiner Augen.

In Amadeus Vorstellung war der kreative Künstler eine Feuersbrunst, in der alles andere untergehen musste. Eine reinigende Flamme, die alles Alte, Graue, Abgenutzte, Bedeutungslose, Langweilige, Irrelevante, Schmutzige verzehrte.

Er hatte kein Vorbild, keine Identität, und fühlte deshalb die sozialen Bande desintegrieren, mit neuer Leidenschaft, er tanzte nicht. Er war hilflos, beinahe ohnmächtig. Er hatte Angst. Und Amadeus ging's, versteht sich, um diesen tief greifenden Nihilismus, Verzweiflung, größer als er’s selbst verstehen konnte. Vielleicht war es Wut, vielleicht kamen daher die Symbole in eines seiner Notizbücher. Er sog etwas Befriedigung aus dem zweiten Vornamen, den ihm seine Eltern gegeben hatten, Gabriel, nach dem Engel, der die Posaunen des Jüngsten Gerichtes erklingen lässt. Der schöpferische Prozess, so sagte er, war auch eine Art von Weltenbrand, der die etablierte Realität vernichtete, so dass frische Ideen, neue Seelen aus den Gräbern der Jahrtausende aufsteigen konnten.

Auch Hiram wurde von Amadeus Zerstörungslust angezogen und wärmte sich seine Hände an diesem Feuer, denn wie oft ist Zerstörungslust mit echter Kreativität gepaart. Die Alchemisten des Mittelalters machten viel Hokuspokus um ihre Wissenschaft des ‚Solve und Coagula’. Aber um etwas koagulieren (gerinnen – Form geben) zu können, muß man es erst solvieren (auflösen – zerstören.)

Fred Myrow heulte: „Es war dieser Moment in Los Angeles, den wir alle in den späten Siebzigern so deutlich spürten. Zwischen den Grünflächen und den Garagen. Es war eine unheimliche Umgebung.“

Er war einer der Aufmüpfigen, ein Student, den die Professoren Jahre später als den finstersten, lautesten und zynischsten Hurensohn bezeichnen sollten, der je den Campus auf der Jagd nach Chicks und Kicks unsicher gemacht hatte. In dieser Zeit hatte er oft Visionen, nächtliche Träume, in denen er sich als äußerer Betrachter eines außergewöhnlichen Geschehens sah.

Noch Jahre später sprach er oft von diesen Träumen und bezeichnete sie als etwas Prophetisches, eine ‚Erinnerung an die Zukunft’. „Ich glaube, ich muss die ganze Zeit unbewusst daran denken. Es dachte sich in mir. Ich bin Konzert, Band, Gesang und Publikum, ein Video und eine Aufzeichnung, alles was in meinem Kopf ablief.“

Ein weiterer enger Freund, Haupt-Macker in der Goldenen Zeit, war ein blonder Mephisto-Typ: Felix Faust. Er war gerade aus England eingetroffen. Eigentlich war er aus Glasgow, aber er hatte sich den Namen ‚Faust’ nach einem gleichnamigen Schurken aus einem der alten Justice League-Comics gegeben, die die gesamte spirituelle Nahrung seiner Kindheit gewesen waren. „Aus irgendwas muss man sich seine Identität ja zusammenschustern“, sagte er immer, „Und ich brauche Farmen, Formen und Substanz. Da geht es mir genauso wie jedem anderen. Nur weiss ich es. Selbst ein Schurke, ein Monster, ein Verbrecher sein ist besser als ein Nichts zu sein.“ Das war natürlich psychologisierender Nonsens. Felix einziger Grund, eine 4-Farben-Identität anzunehmen war sein schleichender Albinismus, eine Erbkrankheit, die in seiner Familie seit 13 Generationen grassierte. Jahr für Jahr verlor er mehr an Farbe, Form und Substanz. Auf dem Campus nannte man ihn eh nur noch „den Geist“, „Bleichgesicht“ oder „Whitey“. Er war der Totenbleiche Mann.

Ist es da ein Wunder, was aus ihm wurde?

Täglich kamen Durchgebrannte und Kunstmacher in Scharen. Der ganze Campus entwickelte sich langsam zu einer Art durchgeknallter Künstlersiedlung. Die Menschen lagen am Strand und rauchten Marihuana, LSD gab's im Head Shop. Selbst Amadeus war nur einer von vielen anonymen Herumlungerern mit Shirt und Jeans. Eine Zeitlang wohnte er mit einem Homo zusammen in einer Bretterbude neben dem Kanal, dann zog er in die leerstehende Ruine eines Warenhauses. Das Mobilar: eine Beleuchtung, ein Bunsenbrenner, um gelegentlich Dosen aufzuwärmen, und gegen das Frieren eine Decke. An der Wand ein Graffitti in Day-Glo-Farben, das man auch im Whisky und anderen angesagten Läden sehen konnte: JIM MORRISON STARB FÜR DEINE SÜNDEN.

An einem Abend hatte Amadeus soetwas wie eine Vision, als er ein halbnacktes Mädchen, deren Blößen nur von einem langen Chiffonshal bedeckt wurden, am Strand tanzen sah.

„Hey Hiram“, sagte er, „Das ist die Welt, weißt Du?“

„Hmmm“, gab Hiram zurück und schaute zu der einsamen Tänzerin herunter, die sich auf den Zehenspitzen in ihrem wirbelnden Fetzen drehte. Vier Latinos hockten um sie herum und feuerten sie an, einer spielte auf Bongos.

„Ich meine, was wissen wir schon? Wir schauen dem Tanz zu und versuchen die Schlange im Garten zu finden. Aber vielleicht gibt es gar keine. Weißt Du, ob das Mädchen da ein Star wird oder das Opfer eines Gangbangs?“

„Mann, Du bist immer noch voll drauf“, sagt Hiram.

Amadeus kicherte. „Sicherlich wirkt es unglaublich romantisch. Ich glaube, in ein paar Jahren machen wir uns prima aus; denn es gibt Veränderungen, und wir haben einen Riesenreibach gemacht.“

In anderen Worten war es eine Zeit der geistigen Wiedergeburt - wie nach der großen Pest im Mittelalter, die die halbe Bevölkerung niedergemacht hatte.

Die Überlebenden trugen farbige Kleider.

Das war die Zeit des Frühlings.

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