Mittwoch, 31. Mai 2006

Rauch und Spiegel

„Am Anfang war das Wort...“

Am Anfang war das Wort. Man kennt das ja, manche Leute können einfach nie den Mund halten und ruinieren eine perfekte Stille mit irgendeiner dummen Bemerkung.

Ein Chor von Idioten, Chaos von Geräuschen: die Kakophonie des Daseins. Der unhörbare Pulsschlag des Universums verloren gegangen im Gewirr durcheinander brabbelnder Stimmen: "Es war einmal…", "Manchmal muss man…", "A ist gleich B…", "Das Gesetz ist...", hoch über allem das schrille Crescendo des Plattwurmes: "Gott! Gott! Gott!"

Schaffen wir so unsere Kultur? Aus den Echos ferner Stimmen? Aus den Gedanken, die schon einmal gedacht wurden, aus wiedergekäuten Ideen und halbverdauten Geschichten? Vielleicht gibt es nichts Originäres mehr, sondern nur noch Homagen: der ultimative Retrolook. In Parallelbildung zu einer primären Quelle kann jede Form von Text, Ritual, System, Religion oder Philosophie in überschaubarer Zeit hergestellt werden. Um offensichtliche Plagiate zu verstecken bedient man sich der gleichen Tricks, die auch der Bühnenzauberer hervorkramt um uns zu überzeugen, daß da ein Kopf schwebt oder ein Elephant unsichtbar wurde: Rauch und Spiegel. (Der Rauch verschleiert die Ränder.) Was nicht passt, wird passend gemacht. So entstehen Moden, Klischees und Korrespondenzen, die Quantifizierung von Erlebtem, um sie in passende Kategoriekästchen ablegen zu können, farblich anzugleichen, ihnen das Originäre zu nehmen. Rauch und Spiegel, die den Elephanten verschwinden lassen.

Wann haben wir das letzte Mal einen Gedanken gedacht, den nicht jemand anderes bereits gedacht hat? Wann einen, den nicht jemand anderes für uns konstruiert hat? Wir sind nicht nur Gefangene einer semiotischen Kausalität, die bis zum ersten vagen Grunzlaut eines aufrechtgehenden Primaten zurückführt. Wir tragen sie auch weiter, grunzend, aufrechtgehend, die gleichen Sprach- und Denkmuster verfolgend, Primaten, geschichtenerzählende Affen. Wir können zwar den Elephanten verschwinden lassen, aber es fehlt uns dennoch das Verständnis für ihn. Er, genau wie die Wirklichkeit, ist zu groß, um sie vollständig in eine unserer kleinen Schubladen verstauen zu können. Der Rüssel hängt noch heraus – und Vorsicht! – er kann uns immer noch packen.

Die perfekte Stille ist ruiniert, der magische Moment verweht. Der Rauch verschleiert die Ränder, aber da ist immer noch ein Spiegel, in den wir hineinblicken können. Beides, der Elephant und der Affe schauen zurück. Die Geschichte, die sie erzählen, offenbart jedoch mehr über den Zuhörer als über das erzählte. Sie kann keinen Anspruch erheben auf Metaphysik, nur auf Semiotik: Schrecken in einer Handvoll Staub, voller Zeichen und Wunder, ohne Bedeutung.

Die Erforschung der Beziehungen von Zeichen zueinander aber ist keine Disziplin der Magie. Sie kann vielleicht förderlich sein, aber nur, um Gespür, Intuition oder Weisheit für die einzelnen Fäden zu entwickeln, aus denen das komplexe Gewebe menschlicher Geschichten besteht. Oder auch, um jedem einzelnen dieser Fäden auszuweichen. Was wir benötigen, so scheint es, während wir durch den Dschungel aus Zeichen und Wundern irren, mit denen wir unsere Nekropolen geschmückt haben, ist ein Schwarzer Prometheus, der erneut dem Himmel das Feuer stehlen kann.

Verbrennt in der Wüste Weihrauch unter den Nachtsternen! Singt das leidenschaftliche Lied!

Da ist ein geflügeltes, geheimes Feuer, das in jedem Herzen brennen kann.


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work in progress No. 42, Vorwort (2005/06) :: Den Text habe ich im Februar '05 angefangen, also kurz bevor es NEMED HOUSE Blog gab. Nach dem ersten Satz und der Sache mit dem Elfanten bin ich ein wenig ins Schwimmen gekommen und habe viel über Korrespondenzkunde geschrieben, weil mich das damals sehr beschäftigte. Seitdem rottete der Text in meinem "In Arbeit"-Ordner. Ich denke, in dieser Form ist er gefälliger. Ein wenig wie ein Manifest, das abends von einem durchgeknallten Künstler an einer brennenden Mülltonne dem Rest der Betonindianer vorgelesen wird. (Was mich auf eine glorreiche Idee bringt... hat jemand eine Mülltonne zur Hand...?)

Donnerstag, 25. Mai 2006

Der fröhliche Phantast

Einige Gedanken während der Recherche zu Themen des "Weird Tale" und der "Weird Religion"
"Hinauf auf die Dächer und Türme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen!" (F. Nietzsche: "Die fröhliche Wissenschaft")
Es scheint eine Art Wechselbeziehung zwischen der religiösen und der phantastischen Literatur zu geben. Natürlich kann man ironisch anmerken, dass religiöse Literatur sowieso immer einen phantastischen Kern hat – und haben muss! – aber tatsächlich scheinen beide Genres sich gegenseitig zu beeinflussen und zu befruchten. Dies ist das, was man eine Literatur von Ideen nennt, die vor allem durch eine Vervielfachung und Rekombination von Ideen definiert wird, weswegen es vielleicht auch nicht verwunderlich ist, dass man den schlechtesten Stil meist in religiösen und esoterischen Schriften findet, oder in Groschenheften, die ja ebenfalls für ein Massenpublikum geschrieben wurden.
Beides kann als starkes Narkotikum gesehen werden, mit dem der in sozialer und wirtschaftlicher Unfreiheit Gehaltene sediert werden soll, als "Geist geistloser Zustände".
Den Autoren solcher Schriften ihre Wirkung anzukreiden, ist dennoch verfehlt, ein Eskapismus – ob nun in die Arme einer Gottheit oder die Abenteuer des Königs von Valusien – kann durchaus heilsam sein, um den immanenten Druck der Realität verarbeiten und transformieren zu können. Nichts anderes ist die Funktion eines Traumes.
Immerhin ist es sicherlich heilsamer, phantastische Erzählungen zu geniessen, als sich in einer phantastischen Religion zu verlieren.


APHORISMEN

Literatur ist per Definition Eskapismus: Man entflieht der wortlosen Realität in die Architektur der Sprache.

* * *

Es kann keine "realistische" Literatur geben; dies zu glauben ist die grösste Fiktion.

* * *

Religion und Phantastik kritisieren den Schöpfer: sie rächen sich am Leben mit der Phantasmagorie eines "anderen", "besseren" Lebens. (Nietzsche)

* * *

Es ist ein Irrtum, "Phantastik" als Genrebezeichnung zu verstehen – es ist eine Herkunftsbezeichnung.

* * *

Religio = Wieder-Verbindung. Mit einem Traum, den ein Phantast auf die lange Reise schickte?

* * *

Wir wählen, eine andere Wirklichkeit zu bewohnen, Nachtwandler des Tages.
Dann fürchtet den Tagwandler der Nacht, ihr Mond- und Gottsüchtigen!

* * *

Moral als grundsatzliche Verschlechterung der Phantasie, als "böser Blick" für alle Dinge. (Nietzsche)
Umgekehrt: Phantasie als grundsätzliche Verbesserung der Moral, da nicht an die Dinge gebunden.

* * *

Ohne Phantasie hätten die Wolken keine Formen.

Robert E Howards KULL :: Die Religion von Atlantis (2)


Fortsetzung von Teil 1

Von der ersten Religion der Menschheit erfahren wir nur aus Umwegen. Nicht viel von der Religion dieser ältesten Zeit ist auf uns gekommen, Fragmente, Erinnerungen in den ältesten Sagen, Namen. Wie "Die Spiegel des Thuzun Thune" und "Nur einen Gongschlag lang" zeigen, war zumindest Robert E. Howard mehr an metaphysischen Spekulationen interessiert als an Religion. Religion in den Tagen von König Kull ist nie mehr als archaische Staffage – Namen, Fragmente. Nicht zu unrecht, wenn wir Forlong Dux Thesen folgen, dass zu dieser Zeit noch keine Evolution zu komplexeren Ideen und komplizierteren Riten erfolgt war. Kann man mehr erwarten als die Verehrung einiger weniger Ur-Demiurgen?

Der Baum. Das Lingam. Die Yoni. Die Schlange.

Wir dürfen hier auch nicht den inhärenten, "keltischen" Kulturpessimismus Howards ausser Acht lassen, seine Sympathie für den "Barbaren", seine erklärte Meinung, dass Barbarei der Naturzustand des Menschen sei. Dies zusammen mit der überragenden Erscheinung König Kulls steht in paradoxem Zusammenhang mit okkulten Evolutions- und "Rasse"-theorien, wie sie gerade in Amerika durch sensationelle "Neuentdeckungen" und Artikel in den Sonntagsbeilagen der Zeitungen popularisiert wurden. Howard war sicherlich, wie jeder fleissige Leser seiner Zeit, mit den Schriften der wiedererweckten "Theosophie" und der Lehre von sogenannten "Wurzelrassen" vertraut, die in einem anderen Stadium "geistiger Entwicklung" legendäre Kontinente wie Hyperborea, Lemuria und Atlantis bewohnten.

Es ist nicht verwunderlich, dass diese Ideen zum Zeitpunkt ihrer Popularisierung die Phantasie vieler Autoren entfachten. Der Reiz der Vergangenheit, des Alters der Äonen regte Howard in seiner manischen Begeisterung für Geschichte ebenso an wie seinen Kollegen und Brieffreund Clark Ashton Smith, selbst der große H.P. Lovecraft nutzte die theosophische Psychohistorie als Hintergrund.

Nach der theosophischen Geschichtslehre ging Atlantis nicht auf einmal unter. Der Theosoph W. Scott-Elliot erweiterte dies in "The Story of Atlantis and the Lost Lemuria" (1896) zu einer definitiven Version der Geschichte: So zog sich der Untergang über eine halbe Million Jahre hin, während dessen der Kontinent in eine Reihe von Inseln zerbrach, deren letzte Poseidonis genannt wurde. Der Name "Poseidonis" taucht in antiken Quellen nicht auf, inspirierte Clark Ashton Smith zu einer Reihe von Kurzgeschichten. Da in mindestens einer dieser Geschichten – "The Double Shadow" – sogar die Schlangenmenschen des alten Valusien erwähnt werden, weist darauf hin, dass auch hier die gleiche Historie zugrunde liegt. Der Untergang von Poseidonis erfolgte dann vielleicht während des zweiten von Howard beschriebenen Kataklysmus, der den Eurasischen Kontinent zu der Welt formte, durch die der Cimmerier Conan streifte. Dies korrespondiert tatsächlich recht genau mit dem in theosophischen Schriften präferierten Datum von 9.564 v. Chr. (Poseidonis war jedoch nicht das einzige Überbleibsel Atlantis', dessen Zivilisation sich zu diesem Punkt bereits recht weit verbreitet hatte, und an einigen abgelegenen Orten (Bal-Sagoth, Negari) bis in historische Zeiten überdauern konnte.)

Dass Howard dies das "Hyborische" Zeitalter nannte, nach Hyperborea, ist ein Irrtum – nach dem theosophischen Geschichtszyklus lag die hyperboreanische Epoche als erste der "Körperwerdung" weit vor der atlantischen, ca. 200.000 v. Chr., als "es in Europa nur Zwitterwesen gab" (Lovecrafts "Out of Eons"). Nach den Aufzeichnungen von Clark Ashton Smith ("The Door to Saturn", "The Coming of the White Worm" et al.) wurden in dieser nebulösen Epoche Fetische und Zauber überall gesehen. Das Geas war mächtig, und als Gott wurde nur das Fremde und Ungeheure bezeichnet. Verbotene Quellen erwähnen hier Wesenheiten ausseriridischer Herkunft wie Tsathogguah (im heutigen Grönland) und Ghatanothoa (im späteren Mu).

Die erste Religion der Menschheit entstand folgerichtig in der Epoche, die sich aus der Hyperboreanischen entwickelte.

Dies ist nach theosophischer Lehre die Lemurische.

"Lemuria" klingt von allen Kontinenten der Fiktion am Gespenstischsten in unseren Ohren. Man fühlt sich erinnert an die gespenstischen lemures, die Totengeister der römischen Legende, und auch heute noch steht den Eingeweihten das Lemurische für das Halbmenschliche, Vampirische, Gespenstische. Madame Blavatsky wusste von "Drachenmenschen" Lemurias zu berichten – möglicherweise war diese Epoche diejenige, in der sich der Mensch seinen Krieg gegen "Die-Schlange-die-spricht“ führte, die ihn lange Zeit unterjocht hatte? ("The Shadow Kingdom")

Tatsächlich ist der Name Lemuria dem der Lemuräffchen entlehnt, nachtaktiven Halbaffen mit gespenstischen Augen, die über diese Kontinentalbrücke sowohl nach Indien wie nach Madagaskar ausgewandert sein sollen. Die Geologie geht inzwischen davon aus, dass stattdessen Madagaskar und Indien einst einen gemeinsamen Körper gebildet haben und bestreiten die Existenz Lemuriens. In späteren theosophischen Schriften wurde deshalb die Position Lemurias folgerichtig vom Indischen in den Pazifischen Ozean umgedeutet, wo es als Mu wieder auftauchte.

Robert E. Howard ist hier genauer als Geologie und Theosophie: Während „Lemuria“ als die Lemurischen Inseln erscheinen, die auch noch zu Zeiten Kulls existierten und deren Nachfahren die hyrkanischen Völker der Hyborischen Ära darstellen, ist Mu ein mythischer Kontinent im Westen, Sitz der ersten Zivilisation, die annähernd 20 grosse Städte und einige Millionen Einwohner umfasste, bevor sie zu ihrer Blütezeit unterging.

In der unvollendeten Novelle "Isle of the Eons" entwirft Howard ein faszinierendes, aber fragmentarisches Bild dieser Entwicklungsepoche, in der sich viele Elemente nachweisen lassen, die erst in der Thurischen Welt zur vollen Blüte gelangen sollten, und mit dem theosophischen Geschichte konform gehen. Selbst so irrwitzige Spekulationen wie telepathischer Kontakt der Lemurier mit den Delphinen findet sich in Howards Erzählungen gespiegelt: Bei ihm stammten die Lemurier nicht vom Affen, sondern von Seesäugern ab – gleichzeitig ein skurriler Fall von Rassismus, aber auch ein geschickter Seitenverweis auf die Erzählungen seines Freundes Howard Phillips Lovecraft.

Der Theosoph James Churchward datiert den Untergang von Mu in seinem umfassenden Werk zu diesem Thema (The Lost Continent of Mu, The Children of Mu und The Sacred Symbols of Mu u.a.; veröffentlicht 1926–31) auf ca. 60.000 v.Chr. Auch er erkennt Mu als die Urheimat des Menschen, den "eigentlichen Garten Eden". Von hier aus wurde die reine Urreligion und Wissenschaft Mus von den Meistern oder "Naacals" überall verbreitet – vor allem in Thuria (Eurasien), wo barbarische Stämme in ständigem Krieg mit den Überresten nichtmenschlicher Rassen standen. Es ist sicherlich nicht zuviel vermutet, dass die Naacal-Meister hier entscheidende Hilfe bei der Befreiung der jungen menschlichen Rasse leisteten. Der in der Kull-Saga erwähnte Magier-Heroe Rama/Vraama ("The Screaming Skull of Silence") war sicherlich einer dieser Naacal-Meister; es handelt sich vielleicht sogar um den gleichen Muvianer, dessen Namen Churchward im ägyptischen Sonnengott Ra(h) wiederzufinden glaubte.

Dies erklärt, warum die Religion zur Zeit von König Kull auf der ganzen Welt – unter Barbaren wie den Hochkulturen – die gleiche zu sein scheint.

Die Geschichte hat, wenn man Forlong Dux ebenso wie Churchward folgt, aus dieser reinen Urreligion durch Vervielfachung und Rekombination alle anderen Vorstellungen geschaffen.

(Fortsetzung in Teil 3)

Dienstag, 23. Mai 2006

Der Werwolf und die Hexen

Nach der dämonologischen Kontaminierung des Werwolfs in der Zeit der Hexenverfolgung tragen noch viele der im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Sagen diese hexerische Signatur, unter der zahlreiche Facetten des ursprünglichen Erzählprogramms verlorengegangen sind. Vor allem die leidenschaftlichen Volksaufklärer mit ihrem unnachsichtigen Blick auf die "abergläubischen kleinen Leute" machten ihn nun zum Bürger- und Kinderschreck. Für eine ernsthafte literarische Bearbeitung, so scheint es, war diese Gestalt nicht mehr zu gebrauchen. Zu sehr belastet, verdorben und unfruchtbar. Nur wenige Schriftsteller hat sie noch wirklich befeuert. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg verschwand der Werwolf dann auch aus seinem angestammten Revier, dem ländlichen Erzählkreis. Und das, obwohl gerade jetzt seine neue Karriere auf der Leinwand begann.

Elmar Lorey: "Die Vorstellung vom wolfsverwandelten Menschen in einer literarischen Annäherung des 20. Jahrhunderts."

Donnerstag, 18. Mai 2006

Coulrophobia***

Der Mondbleiche Mann, der lachte :: Zur Ikonographie des Killer-Clowns [Teil 1] [Teil 2]

"Es ist etwas Enervierendes am Grinsen eines Clowns, kurz bevor er mordet. Das Weiss der Zähne, gebleckt wie die eines Haifischs oder eines Totenschädels."


Ein Präsentationsfoto von Conrad Veidt als "Der Mann, der lachte" mit einer darübergelegten typischen Zeichnung des Jokers aus den DC-Comics. Auch wenn bekannt ist, dass Veidt als visuelle Inspiration des Jokers diente, ist die völlige Übereinstimmung dennoch verblüffend. Diese Verbindung wird in der Graphsichen Novelle "The Killing Joke" von Alan Moore und Brian Bolland aufgegriffen, die unter anderem auch beschreibt, wie der Joker zu dem wurde, was er ist. Auch hier wird die Geschichte eines schuldlos Schuldigen erzählt, den das Schicksal auf grausame Weise körperlich und seelisch entstellte. Der Joker ist Gwynplaine, aber im Gegensatz zu dem verstossenen schottischen Prinzen findet er keine moralische rechtfertigung im Untergang. Stattdessen sucht er, die gesamte Welt so zu entstellen, wie er sie empfinden muss.


*** Coulrophobia ist der in der Psychiatrie übliche Ausdruck, um Angstzustände beim Anblick von Clowns zu beschreiben.

Mittwoch, 17. Mai 2006

Coulrophobia**

Der Mondbleiche Mann, der lachte :: Zur Ikonographie des Killer-Clowns [Teil 1]

"Es ist etwas Enervierendes am Grinsen eines Clowns, kurz bevor er mordet. Das Weiss der Zähne, gebleckt wie die eines Haifischs oder eines Totenschädels."

Der schrecklichste und zugleich tragischste Clown, und zugleich der mit der grössten ikonographischen Wirkung, stammt überraschenderweise aus einem der unbekannteren Werke des grossen Victor Hugo. „Der Mann, der lachte“ (L'homme qui rit, 1869), ist so etwas wie der hübschere, aber noch schrecklichere Zwilling von „Der Glöckner von Notre Dame“ (Notre Dame de Paris, 1831). Hier wie dort ist die Hauptfigur und Titelheld ein vom Schicksal Entstellter, der jedoch in einer moralisch deformierten Welt die einzig wertvolle Gestalt ist und deswegen tragisch scheitern muss. „Der Mann, der lachte“ ist jedoch gewissermassen noch schrecklicher, auch wenn die Vergleichmöglichkeiten fehlen, da hier nicht ein Geburtfehler die Verunstaltung verursacht wie bei Quasimodo, sondern die Infamie des Menschen. Bei dem Titelhelden Gwynplaine, dem Clownprinzen, handelt es sich um den Sohn eines aufständischen schottischen Fürsten, dem als Kind in einer grausigen Form von Sippenhaftung das immerwährende Grinsen, durch das er definiert wird, ins Gesicht geschnitten wird.

In der 1928 konzipierten Verfilmung durch Paul Leni wird Gwynplaine durch den grossartigen Schauspieler Conrad Veidt dargestellt, der in so unterschiedlichen Rollen wie dem Schlafwandler Cesare in „Das Cabinett des Dr. Caligari“ und dem schurkischen Wesir Jaffar in „Der Dieb von Bagdad“, aber auch als Nazi in „Casablanca“ brillierte. Der Anblick, den er mit Hilfe einer kunstvollen Zahnprothese erreichte, die seine Mundwinkel bis zur Grenze der Erträglichkeit anhob, ist auch heute noch schockierend. Man sieht sofort den Wahnsinn dieses unverschuldeten Schicksals, und wenn Gwynplaine auch nicht der Schurke des Stückes ist, so verkörpert er doch das Grauen, das er selbst erlitten hat. Conrad Veidts durchdringende Präsenz besteht auch heute noch, selbst Photographien von ihm in der Maske des Gwynplaine verstören und erzeugen Unbehagen bei dem Gedanken, dass es durch in der Fähigkeit des Menschen liegt, aus niederen beweggründen seinen Mitmenschen solcherart körperlich und seelisch zu verkrüppeln.

Nach einigen Quellen bestand im Mittelalter eine florierende Industrie in der Herstellung von dem, was man heutzutage Freaks nennen würde, um die Gaffsucht auf Jahrmärkten und den Raritätenkabinetten der Fürstenhäuser zu stillen. Aber auch die Bettlergilden schreckten nicht davor zurück, Kinder und Entführte durch bestialische Verunstaltungen zu lohnenderen Objekten der Mildtätigkeit zu machen. Aber was konnte schlimmer sein als die Kunst der Denetsate, mit der das morbide Grinsen des Todesclowns in die Gesichter Hilfloser geschnitten wurde?


** Coulrophobia ist der in der Psychiatrie übliche Ausdruck, um Angstzustände beim Anblick von Clowns zu beschreiben.

WM 2006 :: Der Countdown läuft

Derweil ich mich hiermit oute als einziger heterosexueller männlicher Mitteleuropäer, dem Fussball so ziemlich am Arsch vorbeigeht, wenn man mir diese pseudoironische Wortwahl erlauben mag, bedrängt mich die Vorstellung der ungewaschenen Massen, die in absehbarer Zeit in sportlichen Irrsinn verfallen, durch die Strassen und Gassen unserer Städte wanken werden.

Selbst die Anzeigen an den S-Bahnen werden immer bedrohlicher. Erst waren es 93, 88, dann 42 oder 33 Tage bis zur WM. Unheimlich, vor allem wegen des darin enthaltenen numerologischen Codes. Es kriecht immer näher, scheinen die roten LCD-Ziffern mir zuzuraunen. Immer näher. Inzwischen kann ich den Achselschweiss schon förmlich riechen.

Und was für ein Bild von Deutschland wird demnächst aus den Ruinen der Stadien aufsteigen? Tatsächlich habe ich eine recht amüsante Vorstellung davon schon jetzt im Netz gefunden:
"I’m off to the World Cup to support England and, whilst there, me and the lads shall endeavour to drink an EU-sized beer-lake, take as many drugs as we can and spit-roast as many uber-breasted, shaven-crotched Bavarian prostitutes as is humanly possible."
So oder anders werden sicherlich einige unserer Nachbaren auffallen, wenn sie in sportlichen Irrsinn verfallen, durch die Strassen und Gassen unserer Städte wanken. Lang lebe die Völkerverständigung!

Montag, 15. Mai 2006

Nemed House :: Year One


Zum Einfährigen Jubiläum von NEMED HOUSE werden einige der unvollendet gebliebenen Serien beendet, liegengebliebenes Material aufgearbeitet und vor allem die interne Linkstruktur etwas geglättet.

[Update Donnerstag, 18. Mai 00:47 :: das Material, das ich bei der Recherche über Killerclowns und die Denetsate angehäuft habe, wurde rigide gekürzt in drei Folgen als "Coulrophobia" veröffentlicht. Endstück bildet eine Bildmontage von Conrad Veidt und dem Joker.]
[Update Sonntag, 4. Juni 00:53 :: habe nunmehr einige der Postings korrekter benannt, damit man sie schneller finden kann; unbedingt notwendig für eine Katalogisierung. D.h., ich kann nunmehr auch endlich mal die Indexe verbessern.
19:25 :: Comic-Index gefüllt.
19:32 :: Story-Index gefüllt.]
[Update Dienstag, 22. Juni 22:04 "Religion von Atlantis 2" Ergänzungen.]

Sonntag, 14. Mai 2006

WWW Numerologie

Seit einem halben Jahr schlummert eine Datei mit kryptischen numerologischen Daten auf meinem Rechner. Es handelt sich dabei um die Abmessungen von Bannerformaten, wie sie in Deutschland und international gebräuchlich sind. Aber bisher hat nichts - weder die grosse Weisse Bruderschaft noch ein totes Gummihühnchen - mir dabei geholfen, hinter den düsteren Code zu kommen, der sich in diesen geheimnisvollen Zahlen verbergen mag.

BannertypBreite (Pixel)Höhe (Pixel)
Kleines Quadrat7575
Microbutton8831
Großer Button (int.)12090
Kleiner Button (int.)12060
Vertikaler Banner120240
Quadratischer Button / Großes Quadrat125125
Großer Button (dt.)13080
Kleiner Button (dt.)
13760
Drittelbanner15660
Halbbanner23460
OMS-Banner40050
Vollbanner46860

Einen Augenblick lang mag man vielleicht glauben, diese Zahlen sind aus gängigen Monitorabmessungen abgeleitet, oder vielleicht aus dem 360°-Kreis, der unsere gesamte Weltsicht seit den Babyloniern prägt... oder aus dem Quintenzirkel, dem Grundungsdatum der Freien Republik Katatonien... weit gefehlt... nichts erleuchtet diese Zahlen. Dunkel, sehr dunkel.

Warum diese Zahlen? Warum keine anderen? Gibt es ein Geheimnis? Oder ist hier drin nur der Geburtstag von Bill Gates verschlüsselt?

Egal, es gibt auch wichtigeres...

Samstag, 13. Mai 2006

Happy Bloggiversary

Einen herzlichen Glückwunsch an Robby Reed von DIAL B for BLOG zu einem Jahr und 290 exzellenten Seiten illuminierender Comicgeschichte. (Meistens das erste, was ich mir morgens nach dem Aufstehen reinpfeife...)

Nuff said.

Donnerstag, 11. Mai 2006

Coulrophobia*

Der Mondbleiche Mann, der lachte :: Zur Ikonographie des Killer-Clowns

"There is nothing funny about a clown in the moonlight."
- Lon Chaney Sr.

Langsam nimmt die groteske Silhouette vor dem fahlen Mondschein Gestalt an. Kalkweisse, aussätzige Haut, einem Leprakranken gleich, der breite Mund zu einem höhnischen, freudlosen Grinsen verzerrt, dass die Augen zu Schlitzen werden unter kunstlos aufgetragenem Rouge. Der Mund, wie gummiartige Lefzen einer Hyäne teilt er das teuflische Gesicht von Ohr zu Ohr. Ein deformierter Körper schiebt sich schlurfend heran, über viel zu grosse Stiefel stolpernd, wie die Schritte eines klumpfüßigen Bettlers. Und plötzlich hebt sich ein unheimlicher Ton in der Stille; das hohle, hallende Kichern eines Wahnsinnigen.

Wer mag wirklich Clowns?

Kinder durchschauen das, was sich hinter der Maske aus Gummi und Theaterschminke verbirgt, schneller als Erwachsene. Was der Erwachsene als drollige Tracht sieht, erkennen Kinder als Deformierung des Normalen. Wahnsinn, der der Welt frech entgegengestreckt wird, und die Welt erkennt es nicht. Sicher, dass es wirklich Theaterschminke ist, die diesen Gesichtern ihre Leichenblässe gab? Und wie sehen diese Gesichter wirklich aus, abends, wenn die Masken abgenommen werden?




Der böse oder Killer-Clown ist nicht erst seit den Mordtaten von John Gacy oder Steven Kings "ES" ein Thema der Literatur. Der Joker, der den Batman von Gotham seit dieser Zeit plagt (Batman No. 1, Frühling 1940), erhielt sein Aussehen in Homage an den Schwarzweißfilm "Der Mann, der lachte" mit Conrad Veidt.

Aber auch der Joker inspirierte eine ganze Reihe kostümierter Psychopathen, wiederkehrende Bedrohungen für so unterschiedliche helden wie Green Arrow, Green Lantern oder Magno & Davey. Sie hiessen Bull's-Eye (World's Finest No.24, September 1946), The Fool(Green Lantern No.28, Oktober 1947) oder schlicht The Clown(Super-Mystery Comics No. 5).

Erzschurken, Clownprinzen des Verbrechens, der tanzende Satan im fahlen Mondlicht... Es ist etwas Enervierendes am Grinsen eines Clowns, kurz bevor er mordet. Das Weiss der Zähne, gebleckt wie die eines Haifischs oder eines Totenschädels.

Aber es nichts Witziges daran.


* Coulrophobia ist der in der Psychiatrie übliche Ausdruck, um Angstzustände beim Anblick von Clowns zu beschreiben. Muss man da wirklich noch mehr sagen?

Ein Thing im Nordland

EVENT HORIZON LIVE 31.08.-03.09.2006

Sonntag, 7. Mai 2006

Fanboy :: Eine Flagge hat viele Gesichter

Beginnend mit diesem Posting hatte ich ein wenig über einen Untertypus des Helden meditiert, den „Patriotischen Helden“, "eine Gestalt, die sich weniger durch außergewöhnliche Fähigkeiten oder Charakterzüge hervortat, sondern durch sein auf der nationalen Ikonographie basierendes Design."

Trotz der Problematik des nationalen Stereotyps kann ein solches Design recht attraktiv sein, wie ja bereits angedeutet. Ob die Figur dann noch einen wirklichen Charakter aufweist, bleibt abzuwarten, aber das ist es natürlich, was sie wirklich interessant macht. Ein realistischer Patriotismus richtet sich wahrscheinlich eher nach kleineren Kreisen, denn nach 'Nationen'. Das würde natürlich auch bedeuten, dass selbst Stadtstaaten ihren Nationalhelden haben. [siehe nebenan für die Freie und Hansestadt Hamburg. :-)]

Als kleiner Bub war mein grösster Held nach eingehender Lektüre der Ruhmreichen Rächer (Williams-Ausgabe) der edle Captain America (!). Und das nicht, weil ich so ein vaterlandsloser Gesell bin, sondern weil mich seine beherrschte, souveräne Art und seine Ideale sehr beeindruckten. (Immerhin, sein Beititel ist ja "Wächter der Freiheit", oder so.)

Ahhh, Freiheit...

Das klingt natürlich sehr gut, bis man sich fragt, was Patriotismus, oder ein Nationaler Stereotyp mit Freiheit zu tun hat. Wenn es um Freiheit geht, warum heisst er dann Captain America, und nicht Captain Freedom?

Jetzt, nach fast 30 Jahren kann ich diese zynische Frage meiner Überichs endlich beantworten. Captain America heisst nicht Captain Freedom, weil dieser Name schon vergeben war...

Der Zyniker jedoch merkt an, dass Captain Freedoms Uniform, auch wenn ihr Design mythischer ist die rein patriotische des anderen Captains, ganz offensichtlich der seinen nachempfunden ist, und ihr noch ähnlicher sah, wenn Jack Kirby sie zeichnete. Aber das ist ok, Kirby hatte ja auch Captain America entworfen. Wo kommen wir da hin, wenn man sich nicht einmal selbst beklauen kann?

FoNt fetiSh

Der absolute Nerdtraum eines einsamen Typographen.
(Jeder normale Mensch würde den Witz auch nicht verstehen...)

Samstag, 6. Mai 2006

Fanboy :: Die Flagge macht noch keine Nation

Ein ziemlich prätentiöser Titel für eine kurze Notiz, aber immerhin... Vielleicht erinnert sich der würdige Leser noch daran, wie ich mich vor einiger Zeit über die linguistischen und ideologischen Fehlgriffe amerikanischer Comicautoren in Bezug auf nationale Eigenheiten echauffierte. (Noch so ein prätentiöses Wort...)

Seit einiger Zeit wird das gleiche Thema auch marginal auf den Seiten des hochwürdigen Nachbarblogs Comics Should Be Good: A Costume Preference diskutiert. Erfreulicherweise kann man sich auf diese Weise die Zeit recht angenehm vertreiben, auch ohne über Politik zu streiten. Und es fing so harmlos an:
"You know what I don't think we see enough of? Costumes inspired by the flag of the country the character is from. It's such a great look..."

Beste Grüsse an Mr. Cronin & seine Crew.

Nemed House :: 365x1

Heilige Scheisse!
Genau vor einem Jahr ist NEMED HOUSE angemeldet worden!
Wie konnte ich diesen Termin bloss verschwitzen...
Wie die Jungfrau zum Kinde...
Eigentlich wollte ich ja nur meine allabendlichen Meditationen zum Oevre Jack Kirbys beschliessen, und nun hat mich der Blogger gefangen. Aber ich bin nicht unglücklich, jetzt geht's doch schneller als ich dachte, ein aktuelleres Medium für meinen Logorrhoe zu bekommen.
Versprochen: Wenn sich der Gesundheitszustand der ganzen Familie Gruner ganzheitlich gebessert hat, werde ich noch mal eine Themenwoche hinterherschieben, und noch mal alle Postings kontrovers aufarbeiten.
Oder so.
Sagen wir...
Ab Montag, den 15.?

Donnerstag, 4. Mai 2006

Cowboy Okkultismus

Was für ein lustiger Ausdruck.
Rosenkreuzerische Heizungsinstallateure?

Allein für den Reichtum der Sprache lohnt es sich, dieses Transkript von Alan Moores "The Highbury Working: A Beat Séance" zu lesen. (Auch wenn es für den Uneingeweihten nach nichts anderem aussehen wird als das Gebrabbel eines einäugigen, einohrigen durchgeknallten Bohémiens...)

Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Magie?
Das weiss nur die Heilige Kablabla...

Mittwoch, 3. Mai 2006

Wikipedia - nur für ...?

Beim Datensammeln wandere ich gerade bei Wikipedia vorbei. ich muss gestehen, auch ich tue dies öfters. Ein kurzer Blick auf die ANgebote, schliesslich nimmt man mit, was man kriegen kann...

Was geschah am 3. Mai?, lese ich...
  • 0996 – Gregor V. wird als erster Deutscher als Papst inthronisiert.
  • 1791 – Die Verfassung vom 3. Mai, die erste moderne Konstitution in Europa, wird im Warschauer Königsschloss verabschiedet.
Daneben ein Bild, das zu "Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai (Gemälde von 1806)" linkt. (Bild:Uchwalenie Konstytucji 3 Maja.jpg)
Seltsamerweise zeigt es jedoch weder Polen (denke ich), noch eine Verfassung noch ein gemälde, sondern stattdessen einen strammen Pimmel, der von einem Linkshänder ordentlich langgezogen wird.

Ähhh... ok. Masturbation? Die Sünde Onans? Katholisches Brauchtum? Was will uns dieses Bild sagen?

Ich habe schon verstanden.

Wikipedia ist also nur was für... umm... Linkshänder?

Dienstag, 2. Mai 2006

Fanboy :: Ein bisschen Kirby...

...findet sich unter der angegebenen Quelladresse.

5 Seiten voll der Glorie des "Fighting American", bei der man sich nie sicher sein kann, wie ernst es Kirby & Simon je war. Aber immerhin: Die Kommunisten sind böse und hässlich. Vor allem hässlich.

Aber das wussten wir ja schon.

Montag, 1. Mai 2006

Robert E Howards KULL :: Die Religion von Atlantis (1)

Es ist ein naheliegender Gedanke, jede Art von geschichtlicher Entwicklung evolutionstheoretisch zu interpretieren. Die Entwicklung zum Besseren und Höheren ist ein weitaus beruhigender Gedanke als der, dass alle Dinge dem Chaos entgegenstreben. Auch in der Religionsgeschichte war es lange Zeit Mode, eine natürliche Entwicklung vom "primitiven" Polytheismus zum "modernen" Monotheismus zu postulieren. Dies lässt sich heute nach Meinung vieler Wissenschaftler nicht mehr verifizieren, stattdessen hat sich eine gesondert phänomenologische Betrachtungsweise innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin herausgebildet.

Heisst das, dass es keine Entwicklungen gegeben hat? Nein. Nur die Vorstellung, dass eine Evolution unbedingt endzielbezogen sei – sozusagen eschatologisch – sollte man zurücklegen. Evolution heisst nicht unbedingt Fortschritt, Fortschritt heisst nicht unbedingt Verbesserung.

Wir können in der Evolution der Dinge auch einfach eine Verfielfachung und Rekombination aller Vorherigen Dinge erkennen – eine der Dimensionen von Geschichte. Die erste Rreligion muss nicht primitiver gewesen sein als die moderneren, aber vielleicht war sie einfacher. Vielleicht hatte sie weniger Götter, als uns heute bekannt sind. Und wenn es die erste Religion war, stammen dann nicht alle anderen von ihr ab?

Gerade im 19. Jahrhundert waren solche Überlegungen, hand in Hand mit der antiquarischen Bewegung und dem Wiedererstarken sogenannter "Theosophie" recht naheliegend. Forlong Dux z.B. hat in seinem umfangreichen und leider durch die Forschung grundsätzlich ad absurdum geführten Magnum Opus „RIVERS OF LIFE or, Sources And Streams Of The Faiths Of Man In All Lands; Showing The Evolution Of Faiths From The Rudest Symbolisms To The Latest Spiritual Developments“ (1883), alle religiösen Ideen und Strömungen („Den Strom des Lebens“) auf einige wenige „grobe“ Grundideen zurückgeführt. Nach seiner Ordnung, hübsch nachzuvollziehen anhand eines ein Meter langen Klappdiagramms, basierten die frühesten Formen der Religion – nach einer nebulösen Epoche, in der Fetische und Zauber überall gesehen wurden – auf der Verehrung einiger weniger Ur-Demiurgen:

Der Baum. Das Lingam. Die Yoni. Die Schlange.

In seiner Chronologie der Ereignisse ist diese Epoche amüsanterweise nahe um 10.000 v.Chr. angesiedelt, was in den nur unwesentlich phantastischeren Erzählungen von Robert E. Howard dem Hyborischen Zeitalter, und in der realen Welt dem Übergang von der erdgeschichtlichen Epochen des Pleistozäns zum Holozän, und dem Ende der letzten Eiszeit entspricht. Natürlich wissen wir, dass die wahre Geschichte der Welt viel länger sein muss als ein paar lumpige Jahrtausende. 10.000 Jahre vor dem Hyborischen Zeitalter herrschten bereits die ersten Königreiche des Menschen, und Atlantis war noch nicht versunken: In dieser Zeit, der Zeit der Acht Reiche und König Kulls, 20.000 v.Chr., die in unserer Wirklichkeit dem Brandenburger Stadium des Hochglazials entspricht, müssen also die frühesten Formen der Religion zu finden sein.

Der Baum. Das Lingam. Die Yoni. Die Schlange.

Wir wissen nicht, ob Howard „Rivers of Life“ gelesen hat – dies ist eher unwahrscheinlich – ebenso unwahrscheinlich, daß Forlong Dux Zugang zu den gleichen Quellen des kollektiven Unbewussten hatte wie Howard. Aber tatsächlich finden wir im Thurischen Zeitalter einen Kult der Grossen Schlange, hinter dem sich die gefürchteten Schlangenmenschen von Valusien versteckten – „Die-Schlange-die-spricht“, die die Menschen der Vorzeit lange Zeit unterjocht hatten. Aber auch sie waren nicht das einzige Überbleibsel einer älteren und schrecklicheren Geschichte der Welt, die nicht erst mit dem Aufstieg des Menschen begonnen hat.

Manche der Götter, die in „schwarzen und purpurnen Tempeln“ verehrt worden waren, mögen nicht mehr als vage und grobe Gestalten gewesen sein, die die ursprünglichen Schrecken beschreiben, denen der Mensch in der Dämmerung der Schöpfung entgegentrat – Masken hinter denen sich Fratzen und Schrecken versteckten, die älter waren als die Welt. Sie waren die Relikte vormenschlicher Kulte, dunkel und blutig, die langsam dem Vergessen anheimfielen, als die Rassen, die sie mitgetragen hatten, an Bedeutung verloren.

Der Schwarze Schatten, der Grosse Skorpion und der Schlangengott sind nur drei der vorsintflutlichen Götzen, von denen uns berichtet wird. Wenn sie jemals irdische Gestalt hatten und nicht bloß Fragmente einer Protomythologie waren, so waren sie nicht auf dem jungen Planeten Erde geboren worden, sondern „auf vergessenen Welten und verlorenen reichen der Schwärze, auf gefrorenen Sternen und schwarzen Sonnen, die jenseits des Lichtes irgendeines Sternes vor sich hin brüten“ (The Altar and The Scorpion). Was sich wirklich hinter ihnen verbarg, mögen wir heute nicht mehr zu erschliessen. Der Schwarze Schatten zumindest war ein bloßes Symbol, durch das etwas die einzige irdische Wirklichkeit annehmen konnte, die ihm möglich war: Das Unnennbare.

Diese Götter – und die nichtmenschlichen Überbleibsel der Vorgeschichte, die in ihrem Schlaf der Äonen auf eine Wiedererweckung warteten und sich Götter nannten – waren jedoch nicht die Götter der Menschen. Sie waren das, was der Mensch, der Sklave der Furcht, einen Gott nannte, weil ihm kein besserer Begriff zur Verfügung stand, um sich seiner Ohnmacht versichern zu können.

Die erste Religion, die Menschen schufen oder in sich fanden, hatte ihre Wurzeln sicherlich an der ersten Wiege der Menschheit. Und wenn man den Erzählungen der Vorzeit glauben mag, war die erste bekannten menschlichen Zivilisation, auf der sogenannten Dracheninsel von Mu zu finden

(Fortsetzung in Teil 2)