Freitag, 3. Juni 2005

Fanboy :: Retcon 0

Morddrohungen überschwemmen das Internet, Fanboys gehen mit gezückten Sammelkarten aufeinander los, professionelle Autoren werden bei Podiumsdiskussionen gekreuzigt, der Rest der Menschheit zuckt mit den Achseln und macht weiter, was sie gerade so tun: Wenige Themen sind esoterischer und so emotional aufgeladen wie das der Kontinuität fiktiver Universen. Kontinuität, ein "zeitlicher oder räumlicher ununterbrochener Zusammenhang" ist der Kitt, der die Illusion der Parallelwelt aufrechterhält, eines der wenigen Naturgesetze, die im narrativen Raum existiert. Das Wort stammt von lat. continuare, was nichts anderes als "fortsetzen" heißt. Die simpelste Kontinuität wird durch den kleinen Satz "Fortsetzung folgt" am Ende eines Kapitels hergestellt. Doch die serielle Natur des Genres hilft wenig gegen die Mächte der Entropie.
Außer Kontrolle geratene Kreativität, die gegen alle Gesetze des narrativen Imperativs oder des gesunden Menschenverstandes Amok läuft, kann über die Jahre hinweg gewaltige Löcher in eine bestehende Kontinuität hauen. Tote leben wieder, die Sterne wechseln ihren Platz, Charaktere scheinen über Nacht zu dem zu werden, was sie immer bekämpft haben. Ein Autor hatte einen schlechten Tag - oder eine gute Idee. (Jedenfalls dachte er dies, bevor die Legionen der Fanboys bei einer Podiumsdiskussion das Kreuz und die Nägel hervorholten.) Man kann so eine Story vielleicht noch geniessen, aber es gibt irgendetwas, was stört - kognitive Dissonanz, die entsteht, weil man weiß, daß das Geschehen sich nicht einmal an die wenigen Gesetze hält, die ein fiktives Universum definieren. Dann droht die allseits gefürchtete Retcon - die "retroaktive Kontinuität", was nichts anderes heißt, als daß man die Vergangenheit umschreibt. Und dann lebt der Tote nicht, weil er nie gestorben ist, oder es waren Klone. Oder böse Zwillinge. Oder die Geschichte ist nie passiert. (Erinnert das nicht irgendwie an ‚1984')

Auf der sehr gelungenen Seite The QuarterBin (nach einer Dürreperiode in neuem Layout wieder online) gibt es seit einiger Zeit extra eine Rubrik zum Thema Retcon und Kontinuität, mit dem Titel "Moebius Strip". Ein guter Ort, um ein wenig in metatextuellen Spekulationen und Analysen einzutauchen, allerdings (wie nicht anders zu erwarten) in englischer Sprache. Ältere Kommentare lassen sich auf den archivierten Seiten der alten Version von QuarterBin einsehen. Amüsant, aber auch treffend, die Serie "Syndromes of Continuity". [Für den englischsprechenden Leser komplett mit Teasertext.]

Syndromes of Continuity I: Retcon Events (Jun 2002) :: Readers may understand that continuity sometimes requires maintenence - but the retcon event sometimes seems like a publisher airing its editorial dirty laundry in public.

Syndromes of Continuity II: Maintenance Books (Aug 2002) :: The maintenance book, in having less to do with telling a good story than with patching the holes in old ones, shows another of the negative consequences of continuity.

Syndromes of Continuity III: Collection for Comprehension (Oct 2002) :: Continuity represents something almost unique in entertainment media in that it makes collectors of consumers in order to allow them to understand the contents of what they buy.

Syndromes of Continuity IV: Stories That Never Ende (Feb 2003) :: Within the strictures of continuity, stories, needing to connect jigsaw-style to other stories, sometimes cease to have beginnings or ends and thus move in an odd limbo of the perpetual middle.

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