Vor einigen Jahren trug ich für kurze Zeit den Gedanken, für eine der damals blühenden Wiccazeitschriften einen Artikel über die Mythologie zu schreiben, die den Schriften des verstorbenen Prof. Tolkien zugrunde liegt. In meiner Phantasie sah ich ein archaisches, phantastisches System der Engelsmagie vor mir: Der Chor der Ainur, die Valar, die Maiar. Auf den ersten Blick eine attraktive Alternative für fantasybegeisterte Heiden, die so den Rückgriff auf die patriarchalen und autoritären Prinzipien jüdisch-christlicher Angelologie vermeiden konnten. Ich gab diesen Versuch ziemlich schnell auf, als mir die fundamental katholischen Überzeugungen klar wurden, die allem zugrunde lagen.
Die Faszination der Worte (allesamt philologische Rätsel aus einer anderen Zeit), die Spuren angelsächsischer Heroik – der dunkle Reiz Mittelerdes – litt sehr unter der Kompromissbereitschaft, mit der sie sich christlicher Apologetik und kleinbürgerlichem Romantizismus unterwarfen. Als Identifizierungsmöglichkeit für moderne Heiden denkbar ungeeignet; diese Art von Mythen als konterrevolutionär zu kennzeichnen, ist sicherlich richtig, führt aber nicht weiter.
Ich für meinen Teil nahm die Kritik an den unterschwelligen autoritären, paternalistischen, fortschritts- und proletariatsfeindlichen Zügen dieser Art von Phantasie an mich und barg sie als kleines schuldiges Geheimnis bei all den anderen Dingen, die man beiseite legt, weil sie sonst den Lebensgenuß beeinträchtigen würden. Immerhin schärfte er mir den Blick dafür, daß was als ‚apolitisch’ empfunden wird, auf die eine oder andere Weise immer konservativ und reaktionär ist. Es gehört zum Wesen dieser Dinge, daß ständig gewisse Ideen impliziert werden, selbst wenn man sich dessen selbst kaum bewußt ist. In der Terminologie von Prof. Tolkien selbst, ist jeder Autor als „Unter-Schöpfer“ verantwortlich für die Basalnormen und Moralethik seines Universums. Diese Normen jedoch entnimmt er dem größeren Universum, in dem er selbst nur ein Darsteller ist.
Nun war es nicht Prof. Tolkiens Absicht, ein heidnisches Evangelium zu verfassen, geschweige denn, gesellschaftspolitisch Stellung zu beziehen, ihm dies vorzuwerfen, verfehlt also das Thema komplett. Auch war es nicht Thema seines Schaffens, aus den Sprach-Altertümern und philologischen Hinweisen eine Geschichte des vorchristlichen Europas zu entwickeln, in dem Sinne, daß das Christentum darin historisch gesehen keine Rolle spielt; was er erschuf, war eine Geschichte Europas vor dem Wirken Jesu Christi. Jesus steht in Tolkiens Werk unsichtbar als Höhepunkt der spirituellen und tatsächlichen Geschichte Mittelerdes, dessen Schatten jedoch bereits auf das Erste Zeitalter fällt. Dies Urteil mag den durchschnittlichen Leser verwundern oder gar erzürnen, alle Werke Tolkiens jedoch wiedersprechen in keiner Weise dem katholischen Dogma, weswegen die filmische Aufbereitung seines Oevres auch im Gegensatz zu anderen Werken der Phantastik von der katholischen Kirche nicht kritisiert wird. Sie ist konservative Apologetik in Reinkultur, die den Status Quo nicht gefährdet. An der Kraft seines Werkes ändert dies jedoch nichts.
An diesem Punkt ereignet sich eine Zäsur – ein Punkt, an dem ich mich früher abgewandt habe. Natürlich ist es infantil, aus Werken der belletristik einen Religionsersatz konstruieren zu wollen – die typische Krankheit des Fanboys. Wenn wird jedoch innehalten, drängt sich uns eine postmoderne Sichtweise von Tolkien auf: Es ist ja kein christliches Werk, was wir da vor uns haben, sondern nur die christliche Interpretation von Themen und topoi, die sehr viel älter sind als selbst die literarische Tradition, aus der sie der grauhaarige Professor geschöpft hat. Der Unterschied zwischen einer christlichen und einer heidnischen Interpretation liegt nicht so sehr im topos des Mythos, sondern in seiner spirituellen und politischen Dimension. Während das Heidnische deutlich demokratischere Züge hat, trotz seines feudalistischen Gewandes, ist das Christliche autoritativ, paternalistisch, restriktiv – spätestens seitdem Jesus seine ursprüngliche Rolle als Vermittler zwischen Mensch und dem Absoluten verloren hat und selbst zum Gott erhoben wurde.
Vielleicht ist die vergangene Kraft, die aus Tolkiens Schriften spricht, gar nicht die seine, sondern er hat nur verstanden, sie in einer zeitgemässeren Umhüllung in die Zukunft zu transportieren? Bei diesem Gedanken drängt sich natürlich der Vergleich mit den Runengesängen oder Bruchstücken druidischen Weistums auf, die schließlich uns auch nur erreicht haben, weil eigentlich christliche Autoren, oder Mönche, von Wissensdurst oder Neugier getrieben die Lehren der Vergangenheit aufschrieben. Alles, was wir vom alten Europa wissen, ist durch diesen Filter aus Begeisterung und Apologetik auf uns herabgekommen. Vielleicht obliegt es uns als erste postmoderne Generation von Europäern, uns von unserer Ankettung ans geschriebene Wort zu befreien und wieder zu der ursprünglichen gesprochenen Tradition zurückzukehren – indem wir sie neuerschaffen! Oder wieder entdecken.
Die grundlegende Problematik, derentwegen ich Tolkien beiseitelegen mußte, als mir seine katholischen Wurzeln klarwurden, ist der Aufbau weiter Teile christlicher Überzeugungen auf dem prinzip Hoffnung. Von einer individualistischen oder libertären Position aus gesehen ist Hoffnung Teil eines infantilen Reflexes. Es ist ein passives Empfinden, das Innerlichkeit in eine Simulation äußeren Handelns verwandelt, Energien bindet statt zu befreien und zugleich die existierenden Institutionen schützt.
Hoffnung ist immer untrennbar mit Furcht verbunden. Nur betäubt Hoffung, wie jede Art traditionellen Opiums, die Furcht. In katastrophalen Situationen, was man gemeinhin ironisch ‚hoffnungslos’ nennt, ist Hoffnung das einzige Schmerzmittel, das dem leidenden Menschen noch angeboten werden kann. Wie auch bei anderen Schmerzmitteln liegt die Gefahr einzig darin, daß die Linderung in Apathie umschlägt und jeden aktiven Impuls zu ersticken droht. Dies ist eine virulente Art von Selbstbetrug, zugleich kindisch und erpresserisch, die sich zunehmend ins Christentum eingeschlichen hat. Natürlich wird man älter, und diese Urteile würde ich heute nicht mehr so unterschreiben. Selbst wenn Hoffnung ein Betäubungsmittel ist, ganz geht es wohl auch nicht, wenn man es einmal von der anderen Seite betrachtet. Die grundlegende Furchtlosigkeit des heroischen Komplexes verweist auch nur auf eine grundlegende Hoffnungslosigkeit, die ihre Wurzeln in einem pessimistischen Weltbild hat, in dem das Streben nach Leben sich vor allem durch das Streben nach dem Tode definiert. „Menschen vergehen, Götter vergehen, übrig bleibt nur der Ruhm, den sie sich erwarben – und Geschichten“. So könnte man den spirituellen Grundtenor Europas vor dem Christentum definieren. Ohne Hoffnung keine Furcht, aber auch keine zeitlichen Dimensionen. Das ewige Hier und Jetzt der Urzeit kann sicherlich keine Alternativen bieten in einer Welt, in der die sozialen, ökonomischen, politischen und vor allem ökologischen Konsequenzen des Daseins immer mehr in den Vordergrund treten.
Wem nützt Hoffnung, die zum Selbstzweck verkommt und jede Art von Aktion im Diesseits mit dem Hinweis auf jenseitige Belohnung ausbremst? Selbst der Status Quo wird von solcher Mutaphobie ausgebremst, da er sich in der Bewahrung der Vergangenheit erschöpft, statt seine Energien zur Formung der Zukunft zu sammeln. Dabei wird gerne übersehen, daß während die ursprüngliche Botschaft Jesu durchaus eine der Hoffnung war, jedoch auch eine Aufforderung zur Aktivität.
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Ursprünglicher Text wiederhergestellt aus dem Original am 27.3.2006.
Ein Artikel zu Tolkiens Figur des "Earendil" und ihren Wurzeln findet sich unter dem Titel "Ein Engel für Mittelerde" in der 10. Ausgabe von SCHWERT+STAB
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