Dienstag, 10. Mai 2005

Pyropunk :: Alte Mss. wiederentdeckt

Ich habe die letzten Tage damit verbracht, meinen neuen Scanner auszuprobieren. Hervorragende Qualität, solider Preis und nicht dicker als mein Daumen. Um auch die Texterkennung auszuprobieren, habe ich in meine Akten gegriffen und mir ist erst einmal aufgefallen, wieviele Mss. (Manuskripte) ich noch nicht erfasst habe. Mir fehlen selbst in Serien, mit denen ich mich heute noch anfreunden kann, weite Teile. Natürlich kann ich die alten Mss. nicht alle über Nacht retten, aber ich hoffe, wenigstens noch bevor das Papier so vergilbt ist, daß man gar nichts mehr erkennen kann. Heute nacht gescannt: das komplette Ms. von „Der Mörder aus der Tonnenbehausung“ (1988), der letzte Pyropunk-Roman, den ich noch auf einer echten manuellen Schreibmaschine geschrieben habe.

Für die Uneingeweihten: Bei der Pyropunk-Serie handelt es sich um die lose verknüpften Abenteuer einer Reihe von Personen der Jetztzeit, deren Realität eine weitaus fluidere Variante der unseren ist. Im Grunde handelt es sich um eine Weiterentwicklung der ‚New Wave’ der SF aus den 60ern. ‚Pyropunk’ ist eine Parallelentwicklung zu ‚Cyberpunk’, mit einem Schwergewicht eher auf den ‚weichen’ Wissenschaften als auf Industrie; jeder Futurist hat auch seine technologiekritische Ader. Gerade das macht ihn zum Realisten.

Für die Eingeweihten: Dies ist der Roman, wo sie alle erwachsen werden. Beziehungen enden und verwandeln sich, Kinder nabeln sich von ihren Eltern ab, und Karl heiratet. Alles in allem wenig phantastische Elemente, aber vielleicht deswegen verspürte ich bei einigen Passagen ein wenig Unbehagen, als ich sie nochmal gelesen habe. Einiges wirkte unangenehm real. Selbst die Superhelden suchen sich irgendwann ihre Rollen selber aus. Das war mir, da ich nur die älteren Stories als Dateien habe, entfallen. Habe ich etwa Nostalgie entwickelt für etwas, was selbst meine Figuren längst hinter sich gelassen haben? Das erklärt vielleicht, warum die Pyropunks sich, wenn ich jetzt eine Story mit ihnen schreibe, allen Versuchen widersetzen, sie wieder in ihre alten Rollen zu stecken: „Fuck you, Gruner“, grollt Werner Pargsen und hinter meinem Kopf zersplittert eine Bierpulle an der Wand. „Auf Deine Kinderkacke haben wir keinen Bock mehr...“
Und hier ein kleiner Ausschnitt aus den Seiten, unverändert und mit Warzen... Ich finde, dafür daß es vor 17 Jahren geschrieben wurde, trifft es die Lage der Nation recht gut...

* * *


„Schlimme Sache“, murmelte KER und schniefte, als ein Laster die Straße entlangbrauste, auf dessen staubiger, hellblauer Seite mit großen, obszön schwarz-rot-golden leuchtenden Neville Brody-Buchstaben das bevorstehende Jubiläum der Bunkerrepublik ankündigte.
„Diese Burschen haben die gesamte Zeitungsbranche verdorben“, knurrte KER und rieb sich die juckende Nase, „Inzwischen trägt sogar eine Parteizeitung diese zeitgeistigen Schönschrift, je länger man hinsieht, desto mehr wird alles mit diesen Atomrunen zugeklebt. Schau's Dir an, ein ‚A’ ohne Querstrich, wie aufregend.“
Mark rührte in seinen Tee. „Alles wird zur Sensation aufgebauscht, auch ein Geburtstag. Das ist Brunner's Happening-Welt, Baby. In ein paar Jahren wird es Feten geben, die jede angebrochene Stunde mit einer Pulle Schampus feiern werden.“
KER brummte etwas und stierte in den dunklen Spiegel seiner Tasse. „Das wäre nicht weiter verwunderlich. Solche Festivitäten hat es während der Kriege auch schon gegeben. Der anderen, meine ich.“
„Aber wir haben doch jetzt Frieden?“, wunderte sich Mark.
KER schob die Teetasse weit von sich. „Frieden, Krieg, ich schätze es würde die gleiche Zeitungsmeldung abgeben, sie würden sich nur im Schrifttypen unterscheiden, mit dem der Artdirector die Fotofilme beschriften würde.“ Er schniefte und schenkte sich etwas Darjeeling nach, nur um ihn weiter trübe anzusehen.
„Was hast Du eigentlich?“, rief Mark erregt.
„Angst“, knurrte KER kurzangebunden.
„Angst? Wovor?“
KER zuckte mit den Achseln. „Den zeitlichen Kontext zu verlieren.“
„Kontext? Wer glaubt denn an soetwas?“
KER spitzte die Lippen.
„Du polnischer Bastard“, fluchte er, „merkst Du gar nicht, wie sich die Zeit mit Müll anfüllt? Um uns herum wird die Zukunft ermordet, und wir schnippen noch im Takt mit.“ Er runzelte die Stirn, nieste und nahm einen Schluck Tee. „Früher hatten die Menschen Träume von der Zukunft, hundert Meter hohe Türme, zwischen denen Schwebestraßen gespannt waren, Flugautos und Gyrokopter erfüllten diese visionären Art Deco-Himmel wie Libellenschwärme, und die Menschen in diesen Städten waren glücklich im Schutz ihrer Energiekuppeln, in sich geschlossene, ausgeglichene Idealgesellschaften - das war früher, und was bieten uns die Denker heute als Zukunft? Alles, was jetzt ist, nur doppelt soviel. Die Zukunft wird heute am Grad der Verpackung definiert. Brrrr!“ Er schniefte.

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