Mittwoch, 27. September 2006

Die Kröten tanzen! (4)

Der Ort: Die Wildnis nördlich der Großen Bunkerstädte
Die Zeit: Irgendwann im 3. Jahrtausend

Die Morgensonne schien unbeteiligt auf die beiden Männer herab. Die Gipfel der nahen Pilzwälder waren von einem feinen Morgennebel verhangen, aber in der Stille erklangen keine schrillen Stimmen mehr. Peklyntok verband seine Wunden und musterte seinen Gefangenen abwartend, der zur Sonne blickte und versuchte, hinter den Pilzwäldern die Silhouette der Bunker zu entdecken. Sein schwarzes Haar flatterte träge um sein Gesicht, das dank der Krallen der Kröten nun nicht mehr so blaß war. „Für einen Moment haben wir Sehnsucht und Entsetzen vertrieben“, sagte Peklyntok. „Aber dieses Dilemma, wenn es überhaupt ein Dilemma ist und nicht bloß eine Art moralischer Magenverstimmung, kann nur dort behoben werden, wo es seinen Ursprung hat.“

Der Gefangene rieb sich die Hände. „Albern genug fühle ich mich jetzt besser als die ganze Zeit vorher. Ich fühle mich wacher und aufmerksamer, vielleicht bin ich auch bloß aus einem Schlaf aufgewacht.“

„Das liegt wohl daran, daß ich Dir die Fesseln abgenommen habe.“

„Hättest Du es nicht, wärst Du wohl kaum hier.“

„Ein guter Handel, das gebe ich zu. Aber Du hättest mich nicht in den Sattel zerren brauchen. Wer sagt, daß ich mich jetzt dafür erkenntlich zeigen würde? Ich bin zu nichts verpflichtet:“

„Niemand ist zu etwas verpflichtet. Ich hab's gemacht, weil ich es für richtig hielt.“

„Glaube nicht, daß ich Dir nicht dankbar bin“, sagte Peklyntok und musterte das Gesicht des Gefangenen, „Was mich angeht, war es richtig. Verwunderlich, was geschieht, wenn man handelt, ohne zu denken, oder wie immer es auch nennen mag. Aber warum traust Du Dir nur bei so kleinen Dingen?“

„Hier ging es nur um Leben und Tod, Mann. Das andere... das bedeutet ewige Verdammnis... Das Schlimme ist, das ich die Bedrückung immer noch nicht los bin. Selbst wenn ich in die Stadt zurückkehren würde und sie nie wieder sehen würde, wäre da immer noch dieses Gefühl des Versagens, und darin erinnert mich jede Straße in der Stadt. Man glaubt alle Straßen zu kennen, selbst an dem Ort, an dem man geboren wird, aber kaum lernt man jemand anderen kennen, der sein Lebtag andere Wege beschritten hat, erweitert sich plötzlich der Blickwinkel, und man starrt auf Wege und Verbindungen, die man vorher noch nie gesehen hat. Und in die angenehme Überraschung, das sanfte Brennen, das man dabei verspürt, mischt sich immer auch ein winziges Quentchen Unbehagen, weil man in eine Welt eintritt, die nicht die eigene ist. Ich frage mich, ob es nur eine Angst vor Veränderungen ist, die daraus spricht, oder mehr...“

„Du weißt, das Du keine Angst vor Veränderungen hast, denn sonst wärest Du nicht so zufrieden, armselig und allein über irgendeine gottverlassene Weide am Ende der Welt zu wandern, fernab aller Bunkerstädte, fernab von Elektrizität, Licht, Wärme und menschlicher Zivilisation. Was auch immer Dich Dein Leben lang in den Katakomben gehalten hat, es war bestimmt nicht der Beton der Wände oder das summen der Laufbänder oder die Musik der Singenden Gärten. All das gibt es hier draußen nicht. Hier gibt es nur kompliziertere Vergnügungen wie Leben und Tod und den Tanz der Kröten.“

„Diese Tänze habe ich schon oft gesehen“, sagte der Gefangene bitter. „Und diese Tänzer sind mir nicht fremd. Nur tragen sie sonst längere Haare und andere Kleider. Aber sie sind immer auf Blut aus, aber meist auf das eigene.“

„Ich glaube, die Schwerkraft versagt bei Dir“, sagte Peklyntok und setzte sich schmerzlich auf. „Was fesselt derartig Deine Gedanken?“

„Ich fürchte, kein bestimmtes Thema. Nur kann ich mich nicht damit abfinden, mich mit nichts abzufinden, wenn da etwas anderes sein könnte. Ich habe oft genug die Gesichter der Clowns gesehen, wenn sie ihre Possen rissen, und den Ausdruck in den Augen der Bettler, wenn sie wieder hungrig die Straßen entlangstrichen. Ich will mich nicht mit Hoffnungslosigkeit abfinden, und wenn es mich umbringt, mich davon freizumachen. Davonlaufen, meinetwegen, aber immer noch eine Möglichkeit haben.“

„Ich kann Dich nicht laufen lassen, das ist keine Möglichkeit, nur noch größere Hoffnungslosigkeit. Hoffnungslosigkeit spricht daraus, daß Du überhaupt so denkst. Wohin Du auch fliehst, irgend jemand wie ich wird immer da sein, der Dich aufhält, jede Straße hat irgendwo ihr Ende. Keine Flucht dauert ewig, Du mußt Dich schon stellen. Ich werde allmählich der Worte müde.“

„Ich würde lieber ein rollender Stein sein als eine Stütze der Gesellschaft.“

„Dann wärst Du nur ein kleiner Unbekannter, genauso ohne Hoffnung wie alle anderen.“

„Ich brauche keine Hoffnung, das ist dasselbe wie Furcht auf der anderen Seite. Ich brauche nur eine Alternative.“

„Was für eine Alternative? Zu Dir selbst hast Du keine.“

„Das glauben nur die Alten. Und vielleicht die Clowns, die nachts weinen, weil ihre Schminke längst in ihre Haut übergegangen ist.“ Der Gefangene lachte und wischte sich hastig über die Augen. Seine Stimme war nun selbst ein wenig schrill geworden. er wußte sehr gut, was das bedeutete.

„Und ich habe immer noch mein Messer und die andere Leine“, sagte Peklyntok. Er verschränkte die Arme vor seiner Mantelbrust. „Wie schnell Du auch rennst, ich kriege Dich. Und wenn nicht ich, dann ein anderer.“

„Nicht, wenn ich das Pferd nehme.“

„Dann dauert es vielleicht länger...“

„Aber ich hätte die Zeit, mir darüber klar zu werden..“

„Verdammt, Mann!“, schrie Peklyntok, „Wovor rennst Du eigentlich davon? Weißt Du das überhaupt?“

„Vor allem, was mich einfangen und in Fesseln dorthin zurückschleppen will, woher ich komme“, sagte der Gefangene ernst, und seine Lippen zitterten ein wenig.

Peklyntok seufzte, halb aus Schmerz und halb aus Resignation.

„Sieh es doch einmal so: Wenn sie jemanden wie mich hinter Dir herschickt, um Dich aufzuhalten, dann bedeutest Du ihr doch irgend etwas, oder? Und wenn es nur der kleine Flecken Mißvergnügen ist, den man braucht, damit das Leben nicht zu unerträglich eintönig ist.“

„Liebe und Haß, eh? Das alte Spiel scheint nie zu Ende zu sein.“

„Es gibt immer neue Spieler“, sagte Peklyntok weise. „Wir reiten abwechselnd, abgemacht?“

„Abgemacht:“

Sie schüttelten sich die Hände.

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