Montag, 25. September 2006

Die Kröten tanzen! (3)

Der Ort: Die Wildnis nördlich der Großen Bunkerstädte
Die Zeit: Irgendwann im 3. Jahrtausend

Der süße, leicht faulige Geruch der großen Pilzbäume trieb in der nächtlichen Brise, schon lange bevor die Wipfel der nördlichen Pilzwälder unter dem Mond sichtbar waren.

„Es war keine Flucht, es war eine Reise“, sagte der Gefangene.

„Es war eine Flucht.“

„Vielleicht. Vielleicht wollte ich auch einfach nur fort. Allein sein, und auf meinem Pferd stundenlang über die leeren Ebenen reiten; unter dem Mond die riesigen Pilze sehen, die wie Krebsgeschwüre an den Bergen emporwuchern; allein sein, fern der Stadt mit ihren tausend Stimmen und dem Geruch feuchter Pflastersteine, weg von allem, weg von Gedanken und Erinnerungen und den Erinnerungen der Erinnerungen, weg von all den Zeichen, die ich an die Häuser entlang der alten Straße gemalt habe, fort von ihr und stattdessen allein mit dem Mond und dem toten Stein der Berge. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.“

Peklyntok grunzte und nickte schwer. „Ja, das verstehe ich.“ Er musterte den Horizont. Ein befriedigter Ausdruck trat auf seine Züge, als er den ersten rosigen Schimmer bemerkte, der am östlichen Horizont das Violett der Nacht vertrieb. Es war auf jeden Fall besser, mit Tageslicht durch die Pilzwälder zu reisen.

„Wie hast Du damals über sie gedacht?“

„Oft.“

„Nein, wie.“

„Bevor ich mich mit ihr traf, freute ich mich darauf, ja, ich schwelgte so sehr in Erwartung und Vorfreude, daß die ersten Stunden bei ihr immer von einem rosigen Schleier getrübt waren - nein, das stimmt nicht einmal, vielleicht manchmal, aber meistens doch nicht. Ich war einfach gerne bei ihr, und ich hätte es gerne gehabt, daß da mehr wäre.“

„Aber da war nicht mehr?“

„Ich weiß nicht.“

„Du weißt nicht?“

„Ich weiß nicht.“

„Das ist verwunderlich.“

„Nicht verwunderlicher als alles andere, was uns beide umgab. Wenn wir in den Singenden Gärten spazierengingen, hatte ich das Gefühl, als ob sie sich wohl bei mir fühlte, und als ob uns etwas verbünde, aber wenn ich allein zurückkehrte, fühlte ich nichts.“

„Dann scheint mir das Dilemma tatsächlich auf einer persönlichen Fehlfunktion zu beruhen.“

„Bei mir nicht mehr als bei mir, glaube ich jedenfalls. Der Gott, der uns beide zusammenbrachte, muß ein grausamer Hund gewesen sein.“

„Weil es anders war?“

„Anders als was?“

„Anders als alles, was Du erwartest hast?“

„Vielleicht. Es macht mich nicht froh. Dumm, soetwas, zu sagen, oder? Aber ich kann nicht die ganze Zeit gescheit daherreden, wenn ich selber nicht genau weiß, was es eigentlich zu bereden gibt. Das einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, sind diese Momente der Enttäuschung. Manchmal möchte man einfach mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, um die Grenzen des Schmerzes zu finden, aber dann ist es meistens schon zu spät. Ich weiß noch genau, was ich dachte, als ich mit ihr das erste Mal in den Singenden Gärten war. Zuerst haben wir uns nicht sehen wollen oder können. Immer hieß es, man könnte, oder man sollte, aber wir haben es immer verschoben - ich habe es verschoben, oder wer auch immer, aber an diesem Abend überlegte ich nicht lange, warf alles hin und folgte ihr. sie war verändert an diesem Abend, offen und irgendwie erwartungsvoll, genauso wie ich. Oder stimmt das nicht? Wahrscheinlich erwartete sie etwas ganz anderes als ich. Rätsel über Rätsel. Den ganzen Abend folgte ich ihr, ermutigte sie, hörte ihr zu, ich weiß genau, daß ich bestimmt nicht zu eifrig war oder aufdringlich, aber vielleicht war genau dies das Problem, vielleicht habe ich einfach den richtigen Zeitpunkt verpaßt.“

Peklyntok lachte. Sein breites grausames Gesicht verzog sich voll fürchterlicher Fröhlichkeit. „Wie mir scheint ist Dein Problem eher eine Unfähigkeit, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen. Was sind die Fakten, und wie hast Du sie Dir dargestellt? Es ist doch so, daß faktisch zwischen Dir und ihr nur eine recht gewöhnliche und platonische Freundschaft bestand, keine Leidenschaft, nicht einmal eine Liebelei. Ihr kanntet euch, und das war es. Du aber sahst darin bereits soetwas wie eine Verlobung, und Du konntest es weder Dir noch ihr verzeihen, daß diese Verlobung nie vollzogen wurde. Du hättest sie einfach fragen können.“

„Pure Wahrheit funktionierte nicht. Das hätte ich nie gewagt.“

„Nur wenige wagen 'pure Wahrheit'.“

„Ich bezweifle, daß sie soetwas direkt ins Auge gesehen hätte.“

„Die Möglichkeit besteht, wenn sich diese Wahrheit nicht als zu brutal herausstellt. Sie hätte sie bestimmt nicht erniedrigt.“

„Aber mich.“

„Eine Möglichkeit.“

„Ja, aber solche Möglichkeiten sind schrecklicher als Gewißheit. Gewißheit zwingt zum Handeln. Soetwas... lähmt. Ich habe immer an anderes gedacht, wenn ich mit ihr in den Singenden Gärten tanzte, zwischen all den Tänzern mit ihren verfilzten Haaren, berauscht von Soma. Die tanzten jeder für sich selbst, mancher schon tot im Kopf. Ich konnte darin nichts schönes sehen, nein, wie auch. Ich dachte an romantischere Dinge, wenn ich sie vor den Neonfackeln tanzen sah. Liebe, ja, oder Aufruhr, egal, was, wenn es nur stark war. Nicht die Gleichgültigkeit oder Farblosigkeit dieser Stadt.“

„Das ist eine Frage des Blickwinkels“, sagte Peklyntok und schaute sich um, „Ich war schon in vielen Bunkerstädten, und in jeder gab es etwas zu entdecken. Die Singenden Gärten sind nicht die uninteressantesten Sehenswürdigkeiten hier im Norden. Viele würden vieles geben, sie einmal ansehen zu dürfen, und Du hast sie jeden Abend haben können, ob nun allein oder mit ihr zusammen.“

„Was andere wünschen muß ja nicht unbedingt mir gefallen, oder? Mir haben diese Stunden, in denen ich allein in den Bergen war, tausendmal besser gewesen als all die Stunden in den Katakomben der Singenden Gärten, die Neonfackeln, die Tänzer und die Knochenmusik.“

„Als ich ein Kind war, bin ich aus eben diesen Bergen geflohen...“

„Wegen der Kröten und den Pilzwäldern...?“

„Wegen der Langeweile...“

„Ja, genau so fühle ich mich auch. Wenn ich allein bin, fühle ich mich viel wohler, auf den Bergwegen, mit dem Pferd, habe ich viel mehr Frieden gespürt als in der Stadt. Ich mußte einfach raus dort. etwas anderes sehen, egal was, etwas anderes, schrecklich oder schön, solange es nur die Erinnerungen in meinem Kopf zum Schweigen brachte.“

Peklyntok wischte sich mit dem Handschuh über den Mund. „Vielleicht erhören die Götter Deinen Stoßseufzer, mein Freund“, sagte er und lockerte den Knoten der Leine, mit der sein Gefangener an den Sattelknauf gebunden war.

„Was meinst Du?“

„Die Kröten tanzen, und es ist noch nicht Morgengrauen.“

Der Gefangene hob den Kopf und sah endlich auch, was sein Bewacher bemerkt hatte. Vor ihnen zwischen den blassen Pilzbäumen schlichen schattenhafte, bucklige Gestalten. Wieder erklang der schwirrende Gesang. War es ein Gesang? Oder nur ein Laut der Vorfreude, oder des Hasses, was vielleicht das selbe war?

Das Pferd schnaubte nervös. Der Gefangene sah zur Seite. Die Spitzen des Büffelgrases bewegten sich an einigen Stellen nicht mit dem Wind.

„Ich sehe sie auch“, sagte Peklyntok. „Große graue Burschen... sie umschleichen uns. Hier kommen wir nicht mehr weg, sie werden versuchen, uns noch vor Morgengrauen zur Strecke zu bringen. Die sind auf Blut aus.“

Der Gefangene schwieg. Er hatte bereits die Geschichten vom großen grauen Steinhaus der Kröten gehört, und was man dort mit Männern zu machen pflegte.

Peklyntok warf die gelöste Leine nach hinten. „Mach Dich los“, sagte er und zog ein Messer aus dem linken Stiefel, „ich muß an mich selbst denken.“ Er warf dem Gefangenen das Messer zu und griff in seine Satteltaschen. „Und falls wir hier herauskommen, werden wir beide noch einmal über diese Geschichte reden.“

„Versprochen“, sagte sein Gefangener und trennte die Fesseln auf. Vorsichtig massierte er sich die Handgelenke und sah mißtrauisch zur Seite. Peklyntok hatte inzwischen eine Armbrust aus seiner Satteltasche gezogen und sie vorsichtig gespannt. Das Pferd schnaubte erneut, lauter jetzt. Im Büffelgras raschelte es.

Der Gesang der Kröten erklang erneut. Ganz nah jetzt. Das harte Schlagen der Armbrustsehne ging in einem schrillen Schrei unter. Im gleichen Augenblick stolperte eine graue, bucklige Gestalt aus dem blauen Gras, knurrte und fiel dem Gefangenen vor die Füße. Er sah noch einen Augenblick große hervortretende gelbe Augen vor sich und einen Armbrustbolzen, der aus einem grotesk breiten Maul ragte, dann prallten graue, singende Körper gegen ihn und er ging zu Boden. Wieder knallte die Armbrust, dann verschwamm alles hinter singenden Froschmündern und kalten Händen mit Schwimmhäuten, die über sein Gesicht fuhren und versuchten, ihm den Mund zuzuhalten.

Er schlug um sich. Klamme Haut gab unter Metall nach, und er spürte die Umklammerung an einer Seite nachgeben. Plötzlich war er wieder auf den Beinen, halb kniend, und mit einem wütenden Schrei stieß er das Messer einer hochaufragenden grauen Gestalt mitten ins Herz. Im gleichen Moment versuchte ihn etwas von hinten am Hals zu packen, aber er duckte sich, trat um sich und hechtete sich nach vorne.

Er war schon auf den Beinen, bevor sie bei ihm waren. Es waren nur grob menschenähnliche Gestalten, ihre Augen mit winzigen schlitzförmigen Pupillen, aber unter ihrer warzigen grauen Haut bewegten sich kräftige Muskeln. Sie waren sicher keine wirkliche Kröten, aber das lange Leben unter den Pilzen mit all ihren Giften und Düften hatte sie so völlig entfremdet, daß sie den Unterschied kaum noch kennen würden.

Der Gefangene wich einer grotesken Hand aus und stach in den drahtigen Arm. Hinter ihm ging soeben das Pferd mit einem schrillen Wiehern zu Boden, und eine graue, schnatternde Horde schwärmte über Peklyntok, der sich verzweifelt im Knien mit seinem Messer zur Wehr setzte. Der Gefangene schlug die Faust der ihm nächst stehenden Kröte die Faust zwischen die Augen, daß die Knochen darunter nachgaben und stieß sie beiseite. Hastig bückte er sich nach der herrenlos am Boden liegenden Armbrust und erschoß eine Kröte, die Peklyntok würgte, von hinten durch den Kopf.

„Das Pferd!“, rief Peklyntok, aber der Gefangene hatte schon in die Zügel gefaßt und das panisch mit den Augen rollende Pferd hochgerissen. Mit einem Fluch zerschmetterte er die Armbrust auf dem Schädel einer Kröte und sprang in den Sattel. Die Kröten stimmten erneut ihren Gesang an und griffen nach ihm, aber er ließ das Pferd auf die Hinterläufe steigen und drängte es direkt in die singende Menge. Das Geräusch knirschender Knochen unterbrach den Gesang, als die metallbeschlagenen Hufe herabsausten. Noch bevor die Kröten sich wieder besinnen konnten, hatte der Gefangene sich weit aus dem Sattel gebeugt, Peklyntok am ausgestreckten Arm ergriffen und zerrte ihn zu sich empor. Mit einem Schrei gab er dem Pferd die Sporen, und das Tier brach durch die Reihen der Kröten und hetzte durch das blaue Gras der Morgendämmerung entgegen.

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