In den letzten Monaten hatte Karl Edwyn Rothner etwas konstruiert, was er großspurig sein „Absorbascon“ nannte: eine Anordnung von 81 Monitoren, die unter anderem mit einem globalen Zufälligkeitsgenerator gekoppelt waren. Die Maschine nahm eine ganze Wand des Zimmers ein, in dem er sich nun aufhielt, nach hinten in den schwarzen Nappasessel gelehnt, während neben ihm die Aufzeichnungmaschinen summten. Über die Bildschirme huschten in schneller Folge Bilder, als der Zufälligkeitsgenerator immer wieder neue Sender aus dem internationalen TV-Netz griff, das Programm eine beliebige Anzahl von Sekunden zeigte und wieder einen anderen Sender wählte. Die Strahlung der Monitore ließ Karls bleiches Gesicht elektrisch blau schimmern, alles andere war in hektische Schatten gehüllt, von den Pixelstürmen verschluckt.
Eine bläuliche Maske, die körperlos in der Dunkelheit schwebte...
Nach einer Stunde vor den Monitoren hatte der Rest des Raumes, und sein Körper, ihre Bedeutung verloren. Eine weitere, vielleicht unnütze, Information über das Dreidimensionale, die im hektischen Zucken der Infoströme beiseite fiel. Die zwei Dimensionen der Bildschirme waren zur Realität geworden.
Nach drei Stunden vor den Monitoren hatten die Bilder aufgehört, Sinn zu ergeben. Sie zerfielen in einzelne Informationssequenzen, die das Gehirn unabhängig von einander zu interpretieren versuchte. Landschaften wurden zu Zahlenmodellen, Gesichter zerfielen in polygone Strukturen. In der Monitorwand begannen die 3 x 3 Hauptpanele hervorzutreten, in denen jeweils 3 x 3 Monitore verankert waren. Formen begannen innerhalb der Panele miteinander Wechselbeziehungen aufzubauen.
Nach vier Stunden vor den Monitoren war Karl davon überzeugt, dass aus den willkürlich generierten Bilderfolgen eine Art selbstreplizierender Intelligenz sprach, von deren Existenz niemand bisher geahnt hatte, dass nämlich das Fernsehen selbst sein Programm zusammenstellte.
Nach fünf Stunden vor den Monitoren war die Trennung zwischen dem Gesehenen und dem Seher endlich aufgehoben, und Karl absorbierte alle Informationen direkt über die Sehnerven. Sein Bewusstsein teilte sich in Split Screens auf, er in jedem visuellen Zeichen präsent:
Arschgewackel auf Monitor 15, ein metallener Gegenstand über rotem Fleisch auf 55, Gameshow oder Exekution auf 23, CSI-Team auf 9. Dazwischen Silhouetten von Soldaten, Polizisten, paramilitärischen Truppen. Beschlagene Visiere verstecken die Gesichter /cut/ Texteinblendung: DDR geheim – Schattenreiche. Dunkelhäutige Jugendliche in weiten Jacken schreien und rennen. Musikvideo oder Reportage? Jean Paul Belmondo schlägt immer wieder auf einen Verbrecher ein, umgeben von roten Zahlen entblösst eine alte Frau ihre mit Venen tätowierten sackenden Brüste /cut/
Gefrorene Momentaufnahme schmelzenden Plastiks, dessen Tränen bizarre Formen bildet, ein schreiendes Kind, eine Animesequenz zweier bis aufs Farbschema identischer Ninjas /cut/ eine Gurke verwandelt sich unter einem huschenden Messer in hauchdünne Scheiben (?), die Klappe eines Kofferraums wird geöffnet, ein blutüberströmtes Gesicht schaut heraus, Feuerwehrmänner versuchen brennende Autos zu löschen /cut/ Völkische Musikschau: die Sängerin verzerrt ihre silikongeschädigten Lippen zu einem Vollplayback. Realityshow: ein mit Ekzemen übersäter Obdachloser wird verhaftet. Ein dünnes Urinrinnsal zeichnet seine letzten Schritte nach.
Ein Tarottrumpf wird aufgedeckt. Der Turm. Die Hand, die ihn ergreift, ist voller Runzeln und Altersflecken, bevor sie verdeckt wird durch /cut/ Texteinblendung: Weitere Themen: Darmkrebs, Fit im Alter, Dauerkopfschmerz, Anti- /cut/ der Turm ist in Flammen gehüllt, Menschen stürzen durch den Rauch. Angela Bassett als Tina Turner rammt ein phallisches Mikro in ihren Schlund. Talkshowrunde mit mehreren Politikern, die reglos in ihren Sesseln sitzen und einer unhörbaren Stimme lauschen. Sie wirken wie Leichen. Texteinblendung: Was tun, wenn’s brennt?
Dann die Silhouette eines Polizisten oder Soldaten vor feuersrotem Hintergrund, der langsam eine Schrotflinte hochhebt.
Er zielt genau in die Kamera.
Karl schloss die Augen.
Werner hatte die Tür zu dem Zimmer aufgerissen. Er war kaum zu erkennen, so hell schien das Tageslicht hinter ihm zu sein. Oder war es ein Feuer?
„Yo, Karl!“, heulte er, „Der Wichser an der Ecke vertickt schon wieder Benzin an die Kiddies!“
Karl öffnete die Augen. Die Monitore hatten sich alle in einheitliches weißes Rauschen gehüllt.
Die Message war angekommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen