Freitag, 4. November 2005

Pyropunk :: Europa Babylon 1.0

In den letzten Tagen redeten die politischen Kommentatoren immer wieder von Jamaika, so als ob das alles erklären würde. Alles war unklar geworden, seitdem die Amateuer-Assassinen begonnen hatten, den Profis die Arbeit abzunehmen. Selbst die Tagesthemen waren konspirativ geworden – statt über Perspektiven sprach man über Farbanordnungen. Ampel-Koalition. Jamaika-Koalition. Das war ein Code, den Wolf Leandrowsky nicht knacken konnte, egal wie oft er es versuchte. Wenn dies die Zukunft sein sollte, wann würden die Rastafaris anfangen, richtig im Großen Spiel mitzumischen? Immerhin, sie hielten sich für die wahren Kinder Zions, und alles andere war Babylon. Wenn Wolf aus dem Fenster auf die grosse Stadt am grauen Fluß herabsah, konnte er sich eines kleinen Funkens Sympathie nicht verwehren.
Aber sich deswegen Dreadlocks wachsen lassen? Nee, das ging nun wirklich nicht.
„Schwarz-gelb-grün: Die Nationalfarben von Jamaika. Autokennzeichen JA. Was ist dann Schwarz-Rot? Albanien, oder was?“
„Anarchosyndikalismus“, grinste Karl Edwyn Rothner vom Sofa her, zog die Zigarre aus dem Mund und blies drei perfekte Ringe, die sich gegenseitig zerstörten. „DAS ist der Geschmack der Zukunft, Bruder“
„Was soll das für eine Zukunft sein?“, murmelte Wolf und justierte den zweiten Tachometer an der Maschine nach. „Müssen wir jetzt alle Bob Marley hören?“
„Na, sooooooo übel wär das nicht“, grunzte Werner Pargsen und versuchte die vielen bunten Pillen auf dem Tisch in eine andere geometrische Anordnung zu bringen. Er fluchte, als der Tisch kippte und ihn mit einem Regen roter, gelber, schwarzer und grüner Kugeln überschüttete. Ein polychromer Regen. Groovy, oder? „Farben..:“, grollte Werner. „Farben...“ Er inhalierte sein Bier.
„Vielleicht ist das auch bloss ein Code. Jamaika = Bananenrepublik. Ganz offensichtlich, oder? Die betreiben doch nur noch Cargo-Kulte. Zelebrieren die Rituale der Demokratie, ohne zu wissen, wozu die eigentlich dienen sollen. Wir hätten damals alle ‚Cool Runnings’ boykottieren sollen.“
Wolf runzelte die Stirn. „Farbcodes der Weltpolitik?“
„Möglich. Alle psychosexuellen Subkulturen haben so was. Gelbes Taschentuch links, rotes Taschentuch rechts... in der Politik teilen auch nur einige aus, und die anderen müssen’s wegstecken...“
Werners Gesicht erhellte sich. „Gelb und rot? Das sind die Tschechen, nicht?“ Wolf senkte erschüttert den Kopf. Manchmal war er sich nicht sicher, ob seine Freunde überhaupt einen linearen Zugang zur Wirklichkeit hatten oder nicht. Die Zeitsprünge kommen immer häufiger, dachte er. Bald sind wir im 21. Jahrhundert angekommen.
„Die Erste oder Alte Welt hat ausgedient, mein Junge“, lächelte KER. „Das kommt jetzt alles zurück. Die Zivilisation ist einmal um den ganzen Erdball gewandert, der Sonne hinterher, und jetzt bekommt Europa all das zurück, was es in den letzten Jahrhunderten auf die Reise geschickt hat. Dreifach.“
„Karma?“, murmelte Werner und fummelte an seinem Hosenbund herum, wo einige bunte Kugeln kleben geblieben waren.
„Zuerst kamen die Amerikaner. Dann die Australier. Nun kommen alle unsere alten Kolonien zurück“, sagte KER. „Und die Alte Welt wird langsam unter dem Einfluss der Neuen und der Dritten in die Vierte Welt fransformiert. Aber diesmal nicht in eine Welt neuer Götter und Superhelden. Warte nur ab, bis sie die ersten Schreine für Haile Selassie bauen.“
„’Ernte, was Du gesät hast’, was?“, zischte Wolf und leitete den Strom um.
„Klar. Warum nicht?“
„Das ist nur ein hübsches Bild, mit der Du eine eher nichtssagende Gegenwart mythisch aufwerten willst.“
„Nee, das ist Evolutionstheorie, Mann, Migration. Und die Erde ist nun mal ‚ne Kugel.“
„Je weiter man nach Westen geht, desto eher kommt man in den Osten, eh?“
„Das ist das Problem mit diesen Sonnenanbetern.“

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