Freitag, 23. September 2005

Pyropunk :: Altweibersommer

Es war Altweibersommer, aber das hatte der Kanzlerkandidatin auch nicht geholfen. Ein lauer Wind wanderte die Straßen herunter und trieb die Fäden auswanderungswilliger Spinnen vor sich her wie das feine Haar schwedischer Jungfrauen. Inmitten der Ruinen von Staagenbarg hatten es sich die Ureinwohner zwischen einer Eibe und einer Eiche gemütlich gemacht und schauten zu der vielbefahrenen Bundesstraße herunter, von der die Brise manchmal die Wortfetzen vorbeispazierender Passanten herüberwehte.
„Chaos und Anarchie!“
„Wow!“, sagte Wolf und schaute kurz von dem Mannlicher-Chicano Schnellfeuergewehr auf, das er mühsam zusammenbaute. Die drei Worte im Wind motivierten ihn mehr als alles andere, was in den letzten 24 Stunden geschehen war. „Klingt ja so, als ob es heute doch noch richtig losgeht!“
„Näääh“, grunzte Werner und lutschte den letzten Rest aus seinem Jever. „Ich muß Dich enttäuschen, mien Jung. Das war nur einer unserer Nachbarn, der nicht damit klarkommt, daß es nun mehr als zwei mögliche Regierungsmodelle gibt. Schmutz und Schund! Schmutz und Schund!“
Wolf verzog angewidert das Gesicht. (Mit dem alten Proll, Herrn Pargsen, kam er weniger klar als mit den anderen Ausbildern, die ihn in die Mysterien der Großstadt – Babylon in seinen eigenen Worten – einweihten.) „Ach“, murmelte er, „wir brauchen wieder einen König.“
„Zu spät“, sagte KER und löste sich aus dem Schatten der Eibe. Sein Grinsen glitzerte so hell wie die Zwillingsscheiben seiner Spiegelbrille. „Wir haben in den letzten fünfzig Jahren mehr als einen Prätendenten ausgeschaltet. Was meinst Du, warum Birne nie zum Kaiser gekrönt wurde?“
„Häh? Wer?“ (Man mußte ihn entschuldigen – Wolf war nun mal ein wenig jünger als die erste Generation der Pyropunks, die in den Achtlosen Achzigern aufgewachsen waren.)
Werner kicherte und kratzte sich an seinem rothaarigen Bauch.
„Kennste den nicht mehr? Groß, schwerfällig und schwitzig? Versuchte in Leipzig Jugendliche zu verprügeln? Der war sechzehn Jahre lang der Gott des Mobs, bevor die Außerirdischen landeten...“
Ein einzelner kalter Schweißtropfen erschien auf Wolfs hoher Stirn. „Nee, da hast Du mich jetzt also wirklich auf dem falschen Bein erwischt... Verarschte mich?“
„Ich glaube, das letzte, was man von ihm gehört hat, ist dass er Retrodildos in Bananenform an 40jährige Hausfrauen aus dem Osten über eBay verscherbelte. Oder war das ein anderer?“
KER spuckte aus und schnupperte, was von der Bundesstraße heraufkam. Mit einer Hand zog er eine Zigarette aus seiner Manteltasche, zündete sie an und inhalierte tief. (Fair Play. Wenigstens in den Nikotinwerten.)
„Das ist Satire, mein Lieber.“ Er leckte über seinen Zeigefinger und prüfte die Windrichtung. „All die kleinen analfixierten Wichser, die sich jetzt einen darauf runterholen, daß wir in einer Bananenrepublik leben. Jetzt, nicht damals, als ‚Katrin aus Schwerin’ für Fromms mit Bananengeschmack in die Knie sank.“ Er kniete sich neben Wolf hin, der von dem fertigverschraubten Gewehr mit einem halb empörten, halb angeekelten Ausdruck aufblickte.
„Das finde ich jetzt aber doch ein wenig geschmacklos“, knurrte er.
„Sorry“ KER zuckte mit den Schultern. „Aber es reimt sich so gut.“
Werner rülpste. „Nö. ‚Kerstin aus Ost-Berlin’ klingt noch besser.“
Karl nickte. „Stimmt auch wieder. Aber das war damals. Heute holen die Jungs sich einen auf ‚Kongo-Koalition’ etc. runter.“
Werners rote Augen wurden glasig. „Legba?“
KER lächelte. „Vielleicht später.“
Er hob das Gewehr an, das Wolf in einem Webshop namens THE ASSASSINS HANDBOOK bestellt hatte. Angeblich das gleiche Modell, mit dem Lee Harvey Oswald (oder ein kleiner grünwuscheliger Außerirdischer von Alpha Centauri) den Kennedy per Blattschuß erledigt hatte.
„Okay“, sagte er und klopfte Wolf auf die Schulter. „Die erste Lektion im politischen Leben ist, zur rechten Zeit immer am rechten Ort zu sein.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Also greif Dir ein Bier und entspann’ Dich. Nichts bleibt so wie es war, aber es ist immer dasselbe.“
„Wie profund“, grummelte Wolf, schaute sich fragend um und dann, weil er sah, daß es keine Alternative gab, griff er sich ein Bier und setzte sich neben Werner Pargsen unter die Eiche. Immerhin, wo sonst sollte man die archaischen Mysterien des Rex Nemorensis und des Goldenen Zweiges in Deutschland erlernen außer bei den größten Mutanten unseres Genpools?
„Fuck“, sagte er und öffnete die Flasche. „Alles für einen schäbigen Lacher.“
Im Osten kam schließlich Bewegung in die Szenerie. Zuerst ein vages Hupen, dann näherte sich das leise Brummen der sich in Schrittempo nähernden Luxuskarossen. Karl blinzelte. Für einen Moment lang hatten die Wimpel auf den Kühlerhauben sich in schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahnen verwandelt. Nun flatterten sie wieder lustlos in ihren Originalfarben.
Karl zählte lautlos mit.
Schwarz. Rot. Gelb/blau. Grün. Noch eine in Rot, etwas schmuddelig.
Eine graue. Eine braune. Und ein paar Schritte dahinter natürlich auch noch eine in allen Regenbogenfarben.
Wie im Fernsehen, oder? Man mußte schon regelmäßig auf die obere Ecke des Bildschirmes schielen, um überhaupt zu wissen, in welchem Realitätstunnel man sich befand.
„Das ist ja wie in den guten alten Zeiten“, seufzte Karl und spuckte die Zigarette aus. Ihm wurde fast schwindelig, wenn er an all die Möglichkeiten dachte, die sich ihm anboten.
„Nun gut, dann wollen wir den Meinungsbildungsprozess mal wieder in Bewegung bringen...“
Er hob das Zielfernrohr an sein Auge.

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