„So erzählt eine Generation der andern merkwürdige Träume, dabei nehmen diese Träume schärfer umrissenen Gestalten an, und es verliert sich unmerkbar die Erinnerung an ihre Herkunft, man vergisst, dass es eigentlich Träume sind, die man sich erzählt, dadurch werden die berichteten Begebenheiten nur noch seltsamer, bis sich endlich die Schöpfung vollendet, die wir Märchen nennen.“
Friedrich von der Leyen, "Traum und Märchen" (1901) in: Märchenforschung und Tiefenpsychologie, hg. v. Wilhelm Laiblin, 5. Aufl., Darmstadt 1995
DER GEIST IM GLAS
ein Märchen der Gebrüder Grimm
Der Sohn aber ging in den Wald, aß sein Brot, war ganz fröhlich und sah in die grünen Zweige hinein, ob er etwa ein Nest entdeckte. So ging er hin und her, bis er endlich zu einer großen, gefährlichen Eiche kam, die gewiß schon viele hundert Jahre alt war und die keine fünf Menschen umspannt hätten. Er blieb stehen und sah sie an und dachte: Es muß doch mancher Vogel sein Nest hineingebaut haben. Da deuchte ihn auf einmal, als hörte er eine Stimme. Er horchte und vernahm, wie es mit so einem recht dumpfen Ton rief: »Laß mich heraus, laß mich heraus.« Er sah sich rings um, konnte aber nichts entdecken, doch es war ihm, als ob die Stimme unten aus der Erde hervorkäme. Da rief er: »Wo bist du?«
Die Stimme antwortete: »Ich stecke da unten bei den Eichwurzeln. Laß mich heraus, laß mich heraus.« Der Schüler fing an unter dem Baum aufzuräumen und bei den Wurzeln zu suchen, bis er endlich in einer kleinen Höhlung eine Glasflasche entdeckte. Er hob sie in die Höhe und hielt sie gegen das Licht, da sah er ein Ding, gleich einem Frosch gestaltet, das sprang darin auf und nieder. »Laß mich heraus, laß mich heraus«, rief's von neuem, und der Schüler, der an nichts Böses dachte, nahm den Pfropfen von der Flasche ab. Alsbald stieg ein Geist heraus und fing an zu wachsen und wuchs so schnell, daß er in wenigen Augenblicken als ein entsetzlicher Kerl, so groß wie der halbe Baum, vor dem Schüler stand. »Weißt du«, rief er mit einer fürchterlichen Stimme, »was dein Lohn dafür ist, daß du mich herausgelassen hast?«
»Nein«, antwortete der Schüler ohne Furcht, »wie soll ich das wissen?«
»So will ich dir's sagen«, rief der Geist, »den Hals muß ich dir dafür brechen.«
»Das hättest du mir früher sagen sollen«, antwortete der Schüler, »so hätte ich dich steckenlassen; mein Kopf aber soll vor dir wohl feststehen, da müssen mehr Leute gefragt werden.«
»Mehr Leute hin, mehr Leute her«, rief der Geist, »deinen verdienten Lohn, den sollst du haben. Denkst du, ich wäre aus Gnade da so lange Zeit eingeschlossen worden, nein, es war zu meiner Strafe; ich bin der großmächtige Merkurius, wer mich losläßt, dem muß ich den Hals brechen.«
»Sachte«, antwortete der Schüler, »so geschwind geht das nicht, erst muß ich auch wissen, daß du wirklich in der kleinen Flasche gesessen hast und daß du der rechte Geist bist; kannst du auch wieder hinein, so will ich's glauben, und dann magst du mit mir anfangen, was du willst.« Der Geist sprach voll Hochmut: »Das ist eine geringe Kunst«, zog sich zusammen und machte sich so dünn und klein, wie er anfangs gewesen war, also daß er durch dieselbe Öffnung und durch den Hals der Flasche wieder hineinkroch. Kaum aber war er darin, so drückte der Schüler den abgezogenen Pfropfen wieder auf und warf die Flasche unter die Eichwurzeln an ihren alten Platz, und der Geist war betrogen.
* * *
MERCURIUS: Eines der drei Grundprinzipien (Elemente) der westlichen Alchemie, auch als Quecksilber, Adler der Weisen oder metallischer Luzifer bekannt. Es entspricht dem Geistigen, Ewigen in der Natur und im Menschen. In der Symbolik des Verbrennungsprozesses entspricht Quecksilber dem Rauch. Es wird auch mit dem "Astrallicht", dem Denkprinzip und der geistigen Quintessenz (d.h. der fünften Essenz = dem fünften Element) alles Bestehenden identifiziert.
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