Montag, 24. Oktober 2005

Ich und Dracula

...mal was Autobiografisches...

Das Unheimliche und ich stehen auf gutem Fuß. Anders kann ich es nicht sagen. Eine Gänsehaut bekomme ich nur dann, wenn es wirklich kalt ist, das Unheimliche selbst lässt mich eher kalt. Ich betrachte es interessiert, wie einen alten Freund... einen sehr alten Freund. Das habe ich wahrscheinlich schon mit der Muttermilch eingesogen. Das Lieblingsbuch meiner Mutter jedenfalls, war und wird immer bleiben Bram Stokers „Dracula“. Ich glaube nicht, dass ich es schon vor der ersten Klasse gelesen habe, aber das meiste war mir wohl durchaus bekannt. In meinem Elternhaus ging man immer sehr tolerant mit alten Kulturen, Geheimnissen und auch dem Phantastischen um. Auf eine nüchterne Art, die wohl ausdrücken sollte, dass das Vergessene und Unwirkliche ein interessanter, aber nicht wirklich bewegender Teil der Wirklichkeit war...

Bücher über die Menschheitsgeschichte, das Alte Ägypten lagen also dementsprechend, zusammen mit der traditionellen Gesamtausgabe von Karl May jederzeit bei uns im Wohnzimmer aus. Wahrscheinlich habe ich mit diesen Büchern auch das Lesen gelernt, jedenfalls schmökerte ich jederzeit in ihnen herum, wenn ich nichts anderes mehr zu lesen hatte. Die „Sittengeschichte des Alten Orients“ hatte ich jedenfalls schon mehrere Male durchgelesen, bevor der erste Aufklärungsunterricht während des 2. Schuljahres mir eröffnete, worum es eigentlich ging. Zu dieser Zeit hatte ich auch nicht den Riesenhaufen Comics, mit dem ich mich zu entspannen pflege, und ich hatte auch noch nicht angefangen Perry Rhodan oder etwas ähnliches zu lesen. Comics – ausser dem sehr geschätzten und verehrten – Asterix waren Mangelware. Micky Maus-Hefte und später die Lustigen Taschenbücher gab es, sicher, aber wer nimmt die schon ernst?

1974 wohnten wir noch in Francop, einem kleinen Dörfchen in Sichtweite des Elbdeiches. Meine Eltern hatten ihr Haus im Wald noch nicht erbaut, und das hiess, dass ich nach der Schule von meinem Grossvater betreut wurde, der in relativer Nähe der Schule wohnte. Mein Grossvater Pius („der Fromme“) war zugleich der älteste und beindruckenste Mensch, den ich bis dahin kennen gelernt hatte. Auf jeden Fall hatte ich mit ihm meine ersten Billardpartien gespielt. Im Gegensatz zu allen seinen männlichen nachkommen hatte er auch noch mit 90 vollständiges Haar, schneeweiß und buschig, und die durchdringensten Augen, die ich je gesehen habe – Türkisblau, eine Farbe, die ich auch nie wieder gesehen habe. Vielleicht ein wenig unheimlich, mein Grossvater, auf jeden Fall aber sehr intensiv.

Eines Tages stand ich mit ihm an der Hand vor einem kleinen Kiosk irgendwo in der Nachbarschaft. Er wollte mir etwas zu lesen kaufen, damit ich mir die Zeit zwischen Mittagessen und Billardspielen vertreiben konnte. Für ihn bedeutete das wahrscheinlich das neue Micky Maus-Heft. Gegen Fix und Foxi hatte ich mich immer schon gewehrt. Aber ich beachtete ihn nicht.
Meine Augen hatten sich an einem Bild festgesogen, das sich unauslöschlich in mein Unterbewusstsein eingebrannt hat. DRACULA lebt! Da stand er, in seinem Abendcape – vielleicht nicht der Dracula, den ich aus dem sehr bewunderten s/w-Film mit Bela Lugosi kannte, aber er musste es sein – es stand ja darüber. DRACULA! Und er präsentierte mit zynischem Amüsement seinen Feinden seine neuesten Diener... eine Armee hypnotisierter mordlüsterner... KINDER!

Ein elektrischer Shock hätte mich nicht mehr treffen können... es gab Comics über Dracula? Keine lustigen Tierchen oder putzige Gallier, sondern Vampire? Ich habe diesen Moment und dieses Bild nie vergessen, die triumphierende Visage des Herren der Untoten, die schockierten Gesichter der Vampirjäger, die leeren Augen der Jugendlichen, von denen jeder ein profanes Mordinstrument hält...
Ich weiß nicht mehr, wie es geschehen ist, oder welch satanischer Impuls meinen Grossvater, diesen frommen, strengen alten Mann gepackt hat, aber aus welchem Grund auch immer, ich schaffte es, dass er mir dieses Heft kaufte. Natürlich, Kinder, die Erwachsene umbringen sind harter Stoff, deswegen verbarg ich das Exemplar sorgsam vor meinen Eltern. Das war unser beider Geheimnis, meines und das meines Grossvaters... und Draculas.

Es war zugleich auch das erste Mal, dass ich ein Marvelcomic kaufte.


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Ich konnte leider kein Exemplar dieses Heftes auftreiben, aber es war die deutsche Ausgabe von Tomb of Dracula, No. 7, Marvel 1972, von dessen Titelbild ich das für mich unvergessliche Bild der Kinderarmee Draculas („Slayer of Man“) entführt habe.

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