Freitag, 29. April 2016

Das Lied von der Glocke

Meditation über den Verfall der Geistigen Werte, mit gedämpfter Stimme zu lesen:

Der Klang der Zukunft, eine Glocke. Sie haben Post.
Oder 'Hell's Bells', in einer Halloweenversion, in halber oder vielleicht geviertelter Geschwindigkeit. Sie haben Post.

Und ich muss immer wieder an Schiller denken. Das beste Zitat von ihm, ein passender Kommentar - in fast allen Lagen: "Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn;
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn."


Mir sind eigentlich die Menschen zuwieder, die anderen Menschen sagen, das Problem haben sie nicht, sondern sie seien das Problem. Das heißt heutzutage 'Herausforderung', meine Lieben. Und die Herausforderung sitzt meistens dreißig Zentimeter vor dem Bildschirm. In der Arbeit und der Freizeit. Und dann sind noch diejenigen darunter, den man erst einmal erklären muss, was ein Bildschirm und der ganze andere Teil des technologischen Hexenwerks ist. "Sie sind nicht verrückt... bleiben Sie ruhig, Sie hören keine Stimmen... das kleine Ding in Ihrer Hand... man nennt es ein Te-le-fon..." und "Nein, ich weiß nicht, was Sie gerade machen. Das kleine Ding in Ihrer Hand... es ist ein Te-le-fon und keine Kamera..."

Der Nachbar draußen im April-Schneeregen, der wegen Empfang mit seinem schnieken Superhandy auf und abgeht, kann es nicht fassen, dass uns regelmäßig Bücher geliefert werden. Er geht in Deckung, als ich den Hund ausführe und ruft mir noch hinterher, dass ich ja viel Geld haben müsse, er könne sich das ja nicht leisten. Höre ich da eine Glocke klingeln?

Ich stelle mich der Herausforderung: "Na, wenn Sie das bei ... bestellen, kriegen Sie so etwas teilweise viel billiger. Das höchste sind die Versandkosten, und die liegen bei drei Euro", sage ich höflich, derweil die Hündin an der Leine  ganz deutlich macht, was sie von der Unetrbrechung des Spaziergangs und von diesem Nachbaren im besonderen hält.

"Wie, im Internet? Neeeeee, viel zu gefährlich...", sagt er und bringt sich in Sicherheit, wobei er mir noch einen scheelen, wissenden Blick zuwirft. Ich schreibe mal 'scheel', weil mir kein besseres Wort einfällt. Eine eigenwillige Mischung aus Verachtung und Stolz, dass er anscheinend schlauer ist als ich. Ich werde beim nächsten Mal den Hund noch fester an die Leine nehmen müssen. Hunde riechen Herausforderungen, vor allem die geistigen. Ich lasse sie nicht an unsere Computer, das dürfen nur die Katzen.


Samstag brachte die Post die beiden letzten Hellboy-Romane, die mir noch fehlen (Emerald Hell und The All-Seeing Eye), am Montag, meinem Geburtstag, lag einer der Macabros-Sammelbände vor meiner Tür, und auf das letzte Geburtstagsgeschenk warte ich momentan immer noch. Die Verzögerung war angekündigt, also werde ich den Anbieter nicht verklagen, wie es mein Nachbar und sicher auch andere Nachbarn tun würden. In der Buchhandlung - sans net - hätte ich das Buch (vielleicht) schon, aber so sind halt die Spielregeln. Wenn ich alles, was ich bestelle, druckfrisch bestellen würde, würde ich mir wahrscheinlich nicht mal ein Internet leisten können.


Ich schreibe das hier mal so hin, um mich an den Schmerz zu erinnern, den ich fühlen muss, sobald mir jemand in voller Lautstärke ins Ohr kreischt, ob er sich für seine Finanzgeschäfte jetzt auch noch ein Internet kaufen muss? Der Klang der Zukunft, eine Glocke. Sie haben Post.

Ja, auch dies sind die Herausforderungen des Neuen Äons: Man muss nicht nur technikaffin sein, man muss auch noch eigenhändig die gesamte Infrastruktur hochziehen, damit diese phantastische Technologie nutzbar ist.

Ich werde mir wohl mal wieder meine tibetische Tempelglocke und eine WLAN-Kabeltrommel unter den Arm klemmen und in verschiedenen Landkreisen Sachsens und Oberbayerns die Zukunft einläuten. Vielleicht schicke ich meinem Nachbarn noch ein Update, wozu hat er schließlich Twitter und Facebook auf seinem schnieken Superhandy.

Wie sagt der Dichter? "Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang."

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