„Man könnte fast sagen, dass das Märchen auf einer anderen Ebene und mit neuen Ausdrucksmitteln das exemplarische Initiationsschema wiederholt. Es überträgt die Initiation auf die Ebene des Imaginären“, schrieb einmal der große Mircea Eliade. Diese Deutung ist sicherlich richtig, drängt sie sich doch bei vielen der bekanntesten Märchen geradezu auf, deren Moral sich am Ende als identisch mit den ethischen Lektionen der Initiationsbünde herausstellen. Seltsam dissonant jedoch erscheinen Märchen, in denen die Moral unklar ist, und die Initiation versagt. Ein Beispiel hierfür ist das von den Gebrüder Grimm gesammelte Märchen: „Die Rübe“.
Die erste Hälfte der Geschichte ist eine recht gewöhnliche, aber witzige Variation des alten Motivs von zwei ungleichen Brüdern: Der eine Bruder ist arm, der andere reich. Der arme Bruder hat nichts als eine riesige Rübe vorzuweisen, die er dem König schenkt, der sie so bemerkenswert findet, dass er den armen Bruder mit Reichtümern überhäuft. Der neidische reiche Bruder macht dem König ein wertvolles Geschenk, und bekommt dafür das,w as der König am bemerkenswertesten erachtet – die riesige Rübe.
In dieser Geschichte für sich genommen kann man durchaus biblische und andere mythologische Motive von „Gerechtigkeit“ und „Belohnung“ wieder finden. Was das Märchen der Rübe jedoch so eigenartig macht, ist dass die Geschichte plötzlich fortgeführt wird, obwohl die Moral schon längst geliefert ward:
Der reiche Bruder ist über seinen Misserfolg so empört, dass er seinen Bruder umbringen will und überfällt ihn mit Hilfe gedungener Mörder. Bevor sie den ehemals armen Bruder töten können, werden sie verjagt, können ihr Opfer aber noch in einem Sack an einen Baum hängen.
„Wer aber des Wegs kam, war nichts als ein fahrender Schüler, ein junger Geselle, der fröhlich sein Lied singend durch den Wald auf der Straße daherritt. Wie der oben nun merkte, daß einer unter ihm vorbeiging, rief er "sei mir gegrüßt zu guter Stunde."
Der Schüler guckte sich überall um, wußte nicht, wo die Stimme herschallte, endlich sprach er "wer ruft mir?"
Da antwortete er aus dem Wipfel "erhebe deine Augen, ich sitze hier oben im Sack; der Weisheit: in kurzer Zeit habe ich große Dinge gelernt, dagegen sind alle Schulen ein Wind: um ein weniges, so werde ich ausgelernt haben, herabsteigen und weiser sein als alle Menschen. Ich verstehe die Gestirne und Himmelszeichen, das Wehen aller Winde, den Sand im Meer, Heilung der Krankheit, die Kräfte der Kräuter, Vögel und Steine. Wärst du einmal darin, du würdest fühlen, was für Herrlichkeit aus dem Sack der Weisheit fließt."
Der Schüler, wie er das alles hörte, erstaunte und sprach "gesegnet sei die Stunde, wo ich dich gefunden habe, könnt ich nicht auch ein wenig in den Sack kommen?"
Mit anderen Worten hat sich der ehemals arme Bruder ebenfalls in ein moralisch korruptes Wesen verwandelt, das den Schüler in den Sack lockt und dann mit dessen Pferd verschwindet. Nicht thematisiert wird der mörderische Bruder, der in der Geschichte nur ein Plotelement zu sein scheint. Ebenfalls nicht mehr erwähnt wird die Rübe, was mir darauf hinzudeuten scheint, dass es sich bei dem Märchen ursprünglich um mindestens zwei verschiedene Geschichten gehandelt hat, die ungeschickt miteinander verknüpft wurden.
Die Moral ist unklar, und die Initiation versagt. Vielleicht ist es aber auch die korrumpierende Macht des Reichtums, die sich hier durchsetzt. Hat der König deswegen dem Reichen die Rübe gegeben, um ihn zu einem ärmeren, aber moralisch reicheren Menschen zu erziehen?
(Artikel aus dem Archiv, ca. 15. Juli '06)
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