Montag, 22. Juni 2020

Flash Fiction :: Das Mitternachtskino, eine Kritik

Die Psychologie sah wie ein Pharao aus; schreiend wie ein fühlendes Wesen, ein schwarzer Spalt im grünleuchtenden Schnee! Die letzten Götter tanzten, die blinden, die man nicht auf unserem Planeten findet! Zeit für das Mitternachtskino!“ Mit dieser aufpeitschenden Reklame hat man die Zuschauer in diesen dunklen Saal gelockt, wo schwarzer, staubiger Samt die abgestandene Luft zusammenzupressen scheint. Ein Kritiker hat sich mit ihnen verirrt, das schludrig gedruckte Programmheft im Revers. Alle Plätze sind besetzt, ein Gefühl ungeheurer Schuld liegt über dem Publikum. Eine neue Art von Film! Eine neue Art von Ausdruck! Was wird das Mitternachtskino offenbaren? Wellen der Zerstörung kommen aus den hintersten Rängen, gewisperte Warnungen und Prophezeiungen, die andere nicht sehen dürfen; durch diese erstickende Nacht, durch diesen abstoßenden Friedhof des Universums. Hinter den Welten vage Geister schrecklicher Dinge, hirnloser Zwerge, die hervorkommen und sich auf den Köpfen niederlassen.

Die Stimme des Kritikers: „Die allgemeine Spannung war grauenhaft, als das elektrische Licht schwächer zu werden begann. Auf die Leinwand geworfen sah ich das Kreischen der Städte. Optische Musik sollte dargestellt werden, bewegte Ornamente, lebende Architektur, miteinander verschmelzende Farben, gigantische Grabeswinde auf grünen Wassern. Sprechenrampenfremd, buchfeindlich, losgelöst von allem Zuvorgewesenen, ein eigener Stil von Film. Dumpf, delirierend, dunkel. Es gibt eine teuflische Änderung in der Jahreszeitenfolge und böse Gesichter, eine brütende Vorahnung schrecklicher körperlicher Gefahr. Durch die glitzernde Leinwand strahlt das Gefühl einer weitverbreiteten, allumfassenden Gefahr, die einem die Luft nimmt. Abscheuliche Schlangen, absurd, eine Sinfonie des Grauens, doch sorglich durchgearbeitet, handwerklich vollkommen, in sich abgeschlossen.“


Das Publikum ist währenddessen fast vollständig zur Ruhe gekommen; es hat keine andere Wahl mehr. Benommen, mesmerisiert vom flackernden Leinwandlicht sind sie längst Teil der Illusion geworden, die vom Spiel der Schatten enthüllt wird. Die drückende, abgestandene Luft hinterlässt einen seltsamen Geschmack von Elektrizität und Maschinen im Mund. Der Atem geht stoßweise, wie kurz vor einem Orgasmus.

„Das Mitternachtskino ist ein Prophet“, kritzelt der Kritiker in die Ränder seines schlampigen Programms, die schreibende Hand losgelöst vom Rest seines erstarrten Körper. „Es lehrt uns das wahre Antlitz der Gottheit, die hinter der unzuverlässigen Wirklichkeit von tausend wechselnden Gestalten steht, sunyata, jenseits von Namen und Form... Ein schleichendes Chaos ist dieser Prophet, verschleiert und lautlos… In die feuchten Länder der Zivilisation kommt er, aus dem dunklen Abgrund des Unvorstellbaren, aus der schwindelerregenden Leere über den Sphären von Licht und Finsternis. Sein Avatar schimmert schlank und düster in der schrecklichen Stadt unzähliger Verbrechen. Im Sprühen seiner Funken wird den Menschen das genommen, was noch niemals weggenommen worden war, was man bloß an den Augen erkennen konnte, welche die Städte waren.“

In späteren Veröffentlichungen vermischen sich seine Impressionen mit anderen Stimmen zur Vorführung: „…ein eigener Stil von Film, handwerklich brillant, von elektrisierender Sprunghaftigkeit“, so heißt es. „Gerade in den Szenen, in denen der rätselhafte verhüllte Prophet auftaucht, wechseln Perspektive und Bühnenbild schneller und häufiger, als es gemeinhin als verträglich gilt. Mit den Schnitten - beinahe unabhängig, ob sie entlang von Handgelenken oder quer durch geistige Vorstellungsräume verlaufen - geraten gemeinsam mit den segmentierten Teilen auch die Formen in Bewegung.“

„…Das heute Nacht gezeigte Werk ist ein Musterbeispiel dafür, wie der Film die Stimmungen der Landschaft für seine Wirkenszwecke auszunutzen hat. Die endlose Einsamkeit und Einkehr der Wüste, das Chaos und der Ruin der Großstadt, endlose Stiegen hinauf in ein Zimmer, empfindsame Schatten, das höllische Mondgeglitzer üblen Schnees. Die frühen Morgenstunden werden von Schreien des Alptraums zerrissen, gedämpft, gelb, grotesk; die Herbsthitze verweilt furchterregend. Die filmische Umsetzung der Stimmungen ist über die fieberhafteste Vorstellung hinaus grauenhaft und eindrucksvoll, fast hypnotisch, als ob man verträumt in den eigenen Abgrund hineinstapfen würde...“


„…Aus der schneidenden Sicherung von Form und Kontur kann auch leicht das Gegenteil werden. Die Leichen toter Welten, mit Wunden, an dem nicht der heiße Herbst schuld war… Auch dies ist Teil des filmischen Schockkonzepts, in dem die Masse der Moderne ebenso in Bewegung gerät wie die Körperteile... So umtanzten die Funken in erstaunlicher Weise die Köpfe der Zuschauer... die letzte Wahrheit, so scheint es, offenbart sich erst in den unbeleuchteten Kammern jenseits der Zeit, im Frieden des Nyarlat…“

Die Vorstellung ist nun mehr an ihrem Ende angelangt; der dunkle Saal liegt verlassen da. Nur in der hintersten Reihe, fast unbemerkt, scheint einer der Zuschauer sitzen geblieben zu sein, um in der drückenden Stille zu verweilen. Die dunkle Gestalt, fast eins mit dem staubigen schwarzen Samt der Polster, erscheint durch einen Trick der Kamera verkürzt. Es ist der einsame Kritiker, sein Körper in Streifen geschnitten, ebenso wie das billige Programmheft in seinen sorgsam abgetrennten, schneeweißen Händen. Der Blick seiner starren Augen ist immer noch unverrückbar auf die inzwischen ergraute Leinwand gerichtet.

So schwebte ich die schwindelnden Stiegen der grotesk verzerrten Kulissen hinunter, um seine tiefsten Geheimnisse zu erforschen. Vor mir schloss sich das schreckliche Auge des Lichtes in einer finalen Abblende.

Alles in allem ein hervorragendes Werk des Kinematographie, obwohl wir wohl vergeblich auf eine Fortsetzung hoffen dürfen.


Ausgangsmaterial: Filmrezensionen von "Nosferatu", Texte zum Deutschen Impressionismus (Film), verschnitten mit H.P.Lovecraft's "Nyarlathotep"

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