Dienstag, 9. Juni 2020

3rd Mind :: Der typographische Untergrund

Wenn es stimmt, dass das Internet zerbrochen ist und die Sozialen Netzwerke als Medium zum wertfreien Informationsaustausch versagt haben, wittert der Untergrund wieder seine Chance. Ist es wieder an der Zeit, den Webblog als natürlichen Erben des Egozines neu zu beleben oder... die Lippen werden trocken und die Zunge zögert, es auszusprechen... 180° Retro zu werden?

Die Stimme des Untergrundes (egal welcher Coleur und Richtung), das war früher die Graue Literatur, Samisdat, sehr oft Druckerzeugnisse, die mehr oder weniger regelmäßig, in geringer Auflage (unter 1.000 Exemplaren) und jenseits der etablierten Vertriebswege, teilweise unter abenteuerlichen Bedingungen, weitergegeben wurden. Das Fanzine, das Egozine, oder einfach das Zine. Reich wurde man damit nicht, aber man gewann schnell Freunde, Einfluß und die natürliche Feindschaft des überentwickelten Ästheten, der nicht verstehen konnte, dass eine direkte Kommunikation nicht auf Hochglanzpapier gedruckt werden sein muss. Wahrheit offenbart sich auch sehr schön auf den grob designten Seiten von 80g chlorfrei gebleichtem Kopierpapier.

"Schnüffelkleber war nicht so sehr schlecht geschrieben als kaum geschrieben; Grammatik war nicht vorhanden, Layout war willkürlich, Überschriften wurden normalerweise nur in Filzstift geschrieben, Schimpfwörter wurden oft anstelle eines begründeten Arguments verwendet... alle davon gaben dem Schnüffelkleber seine Dringlichkeit und Relevanz" *

Es hat einen gewissen Charme, solche Broschüren nach all den Jahren wieder in die Hand zu nehmen; sie sind Artefakte einer vergessenen Geschichte, Illustrationen des Zeitgeistes einer anderen Vor- oder Nachkriegszeit als man heutzutage vielleicht denken würde. Und die einfache Herstellungsweise ergibt ein erstaunliches Mass an Möglichkeiten. Mit heutigen Mitteln wahrscheinlich exponentiell. Die Chaoskurve der Operation Mindfuck: Man nehme ein DinA4 Blatt und falte es, schon hat man das klassische Template für Zine-Design, doppelseitig kopiert vier DinA5 Seiten. [Bei Bedarf wiederholen.] Deswegen haben alle die alten Zines eine durch vier teilbare Anzahl von Seiten, parallel zur Aufteilung industrieller Magazine, wobei diese oft ein Vielfaches von 8 oder 16 Seiten aufweisen, je nachdem wie groß der ursprüngliche Druckbogen ist.

Eigentlich braucht man jetzt nur noch eine Schere, einen Cutter und eine Tube Fixogum, und man kann sofort loslegen. Die Typography fliegt einem um die Ohren, man schnüffelt den Leim (Fixogum bringt leider nix), Satzfahnen flattern im Wind, und als Letztes wird das Titelbild und die Mitte des Zines gestaltet. denn die Mitte, da ist die Welt eine Auster. Wenn man das fertige Heft hier aufschlägt, hat man eine echte Doppelseite... das Centerfold! Doppeltviel Platz für doppeltviel Wahnsinn! Das DinA4 Ausreißposter, die Xeroxcollage, der steife Mittelfinger, der sich dem Establishment und dem überentwickelten Ästheten entgegenstreckt...

Also, ich glaube, das wäre immer noch ein interessantes Medium, und Mann, das Geld für ein paar Kopien kann man sich doch sicherlich auch heute noch zusammenschnorren, oder?


* Wenn der automatische Übersetzer meisterhaft überfordert wird, klingt es einfach lustiger.

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