Dienstag, 23. April 2019

Mythos :: Traumsucher [1]



Notizen aus dem Platinbuch

Neben seinen Geschichten über kosmische Monstrositäten und waffentaugliche kognitive Dissonanz verfasste H.P. Lovecraft (1890–1937) auch eine Reihe von Geschichten, die im sogenannten "Traumland" angesiedelt sind. Das wichtigste Werk in dieser Reihe ist wahrscheinlich "Die Katzen von Ulthar" (1920) und "Die Traumsuche nach dem Unbekannten Kadath" (1926). Ein wichtiger Aspekt des "Traumlandes" ist, dass es selbst nur eine vage, traumartige Realität darstellt - vielleicht jenseits der Wirklichkeit, vielleicht parallel dazu oder in fernster Vergangenheit oder alles zusammen. Es ist unklar, und wäre es klar, würde es wohl auch viel von seiner rätselhaften Faszination verlieren.

Lovecraft hat selbst darauf hingewiesen, dass er beim Verfassen dieser Geschichten stark von den Werken des irischen Lord Dunsany (1878–1957) inspiriert wurde, obwohl er die erste seiner Traumgeschichten geschrieben hatte, noch bevor er das erste Mal auf den Lord aufmerksam wurde. Aus den Geschichten von Dunsany (gesammelt z.B. in A Dreamer's Tales (1910), The Book of Wonder (1912) und Tales of Wonder (1916)) übernahm Lovecraft vor allem die wohlklingenden orientalischen Namen, die selbst Dunsanys Inspiration für seine innovative Fantasy in den "orientalischen Phantasien" des 19. Jahrhunderts verraten. Geschichten in der Art von 1001 Nacht, nur ohne den weltanschaulichen Hintergrund. Etwas, das Lovecraft, der als kleiner Junge von genau der gleichen Art von Geschichten fasziniert war und sich für seine Spiele das Pseudonym "Abdul Alhazred" ausdachte.

"Ich werde mich keinem modernen kritischen Kanon unterwerfen, sondern frei durch die Jahrhunderte zurückgleiten und ein Mythenschöpfer werden mit jener kindlichen Aufrichtigkeit, die keiner ausser dem früheren Dunsany heute zu erreichen versucht. Ich werde die Welt verlassen, wenn ich schreibe, mit einer Geisteshaltung, die sich nicht um literarischen Brauch kümmert, sondern um die Träume, die ich träumte, als ich sechs Jahre oder jünger gewesen bin – die Träume, die folgten, als ich das erste Mal Sindbad, Agib, Baba-Abdallah und Sidi-Nonman kennen gelernt habe." (Brief an Frank Belknap Long, 9. Juni 1922)

Ein anderes Werk Dunsanys jedoch lieferte ihm die Idee für etwas, was die vielen unterschiedlichen Themen und Stile seines Werkes verbinden sollte: In The Gods of Pegāna (1905) und seiner Fortsetzung Time and the Gods (1906) erschuf Lord Dunsany als erster eine komplett neue und originelle Mythologie, die umfassend die Schöpfung, das Wirken und den Untergang Pegāna und der Welten darum erläutert. Pegāna ist keine Traumwelt, sie ist die Vorschöpfung, bevor es alle anderen Götter und Mythologien gab. Lovecraft selber nannte den Mythos von Pegāna in seinem Essay "Lord Dunsany und sein Werk" (ebenfalls 1922) "...die phantastische Schöpfung einer neuen und künstlichen Mythologie durchschimmert, ein vollkommen entwickelter Zyklus von Naturallegorien mit dem ganzen unendlichen Liebreiz und der pfiffigen Philosophie einer natürlichen Sagenwelt."

Dennoch hat Lovecraft in dem "Mythos", den er selbst im Laufe der Zeit erstellen würde, einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Ihm fehlte die satirische Ironie, die Lord Dunsany auch heute noch lesenswert macht, und seine Geschichten sind weniger poetisch - der andere wichtige Einfluß auf seinen Stil war das Makabere und Dekadente eines Edgar Allan Poe. Man könnte auch sagen, die Frage nach dem Sinn des Lebens, dem universum und überhaupt allem konnte ein Materialist wie Lovecraft nicht mit der gleichen Art von Satire beantworten wie Dunsany.

Lovecraft hat diese Dissonanz (oder Unverständnis) bereits in seinem Essay über Lord Dunsany angekündigt: Lovecrafts Sicht ist eine verzerrte, düstere Version des zuvor Geschilderten. Trotz des Liebreizes und der "Pfiffigkeit", die er empfindet, interpretiert Lovecraft die leichte Phantasie von The Gods of Pegāna als Weird Fiction mit einem Hauch Grausen - als das, was er selbst schreiben würde. Er sieht in Dunsany gewissermassen eine überlegenere Version seiner selbst, der in seinen Geschichten

"...seine Bühne aufstellt für unerbittliche Götter und ihren noch unerbittlicheren Eroberer Zeit, für kosmische Schachspiele von Schicksal und Zufall, für Leichenbegängnisse toter Götter, für Geburt und Tod von Universen und für die einfachen Annalen jenes Stäubchens im Weltraum, das die Welt genannt wird, die mit ihren armseligen Bewohnern nur eines der unzähligen Spielzeuge der kleinen Götter ist, die ihrerseits bloß die Träume der MÄNA YOOD SUSHÄI sind?"

In dieser Interpretation kann man kaum noch Dunsanys feinen ironischen Unterton wiedererkennen. Es klingt vielmehr nach dem Szenario, dass Lovecraft kurz zuvor in seiner Geschichte "The Other Gods" (1921) vorgestellt hat. "The Other Gods" ist keine Traumgeschichte, sondern spielt in derselben prähistorischen Epoche wie "Polaris" und berichtet von den armseligen Göttern der Erde, die nur die Spielzeuge der "Anderen Götter" aus den Abgründen zwischen den Sternen sind.

Nur wenig später notiert er in seinem Ideenbuch einen Einfall für eine Novelle im Stil Dunsanys, die Elemente aus seinen Traumweltgeschichten und Charaktere aus den prähistorischen zusammenführen sollte und ergänzt wird durch seine eigene Interpretation des Großen Alten, dessen Träume die kleinen Götter sind:

"Eine entsetzliche Pilgerfahrt zum umnachteten Thron des weit entfernt hausenden Dämonen-Sultans Azathoth"


Erweiterte und korrigierte Version / Update 2019-04-26

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