Dienstag, 25. Oktober 2011

Wider die Welt, wider den Tod

Wo die Menschen bedrückt oder gequält werden, da antworten sie mit Hilferufen oder mit Taten. Die Totentänze, welche im Mittelalter an Friedhofsmauern und Kreuzgängen im Deutschen Reiche gemalt standen, waren die Hilferufe eines geknechteten Volkes, dessen weltliche Klassen unter dem harten Drucke Roms an Geld und Geist erpreßt wurden. Oft schon hatte der Papst den Bann gegen den Kaiser geschleudert, worauf die Gotteshäuser verstummten, der Segen der Sakramente aufhörte und jede Seelsorge dahinfiel. Aber auch Krieg, Erdbeben, Hungersnot und Seuche durchkreuzten das Land. Die Kirche selbst, welche die so erschütterten Menschen hätte aufrichten und festigen sollen, war innerlich zerfallen durch die allgemeine Sittenverderbnis der Geistlichkeit. In solch dumpfer Lebensluft, welche dem erfrischenden Gewitter der Reformation voranging, konnte kein seelischer Halt gedeihen und die Gedanken schienen sich im Anblick der Vergänglichkeit alles Irdischen zu sonnen und zu beruhigen, wenn dies die Furcht vor dem letzten Gerichte zuließ. Denn der Tod bedeutete für die Guten ein Ender und Erlöser elender Zustände, für die moralisch versinkenden aber eine fürchterliche Ungewißheit, die man durch Wohlleben zu betäuben suchte.


Verschiedene Niederschriften bürgen dafür, daß dem gemalten Todesreigen zeitlich die Schauspiele vorausgegangen sind. In Deutschland und Frankreich entstehend, drang die Dichtung nach Spanien, England und Italien ein und wurde unter der Regie der Prediger aufgeführt, welche die lebendigste Darstellungskunst dazu benutzten, das »Memento mori« jedermann eindringlich vor Augen zu halten und so die schwächeren Naturen zu beherrschen. Allmählich aber verschwinden diese Spiele, und im XV. Jahrhundert üben an ihrer Statt die Totentanzbilder ihre Wirkungen aus. Berühmt waren die Todesreigen von Paris (Danse macabre), von La Chaise-Dieu, von Lübeck, von Berlin und weithin bekannt auch diejenigen von Basel, welche die Mauern des Klosters Klingental und des Predigerstiftes schmückten. Nikolaus Manuel aber hatte als Erster in Bern einen Todesreigen geschaffen, in welchem stadtbekannte Bürger ihr eigenes Antlitz erkannten.

Nicht genug tun konnten sich die Künstler in ihren Vergänglichkeitsgefühlen, und ihre Phantasie, meist mit herber Ironie durchsetzt, entzündete sich unaufhörlich am Dunkel der Zukunft nach dem Tode. Ein Schrei nach Erschaffung neuen Lebens, ein zitterndes Bangen nach dem undenkbaren Jenseits strömte in der Volksseele, und den Künstlern, welche zu allen Zeiten die berufenen Träger des Gefühls sind, war es vorbehalten, dieser psychischen Massenexpansion durch ihre Werke Raum und Luft zu schenken.

Allgemein trägt die Erscheinung des Todes die Kraft in sich, die menschlichen Triebe aufs Tiefste zu erwecken, weshalb wir die Kultur eines Volkes darnach messen dürfen, wie es sich in Religion, Wissenschaft und Kunst zum Problem der Vergänglichkeit gestellt hat. Ebenso ist für einen Künstler die Auffassung des Todes gleichsam der Spiegel seines eigenen Wertes, seiner schöpferischen Kraft, welche sich aus dem Kampf des täglichen Lebens, aus dem Streben und Werden der Umgebung, zu den ewigen Gedanken Bahn bricht, bis er von diesen getragen die gerechte Gelegenheit zu höheren Meisterwerken errungen hat.

Aus dem Begleitwort von Hans Ganz zu "Der Totentanz"

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