Mittwoch, 3. Juni 2009

Flash Fiction :: Das Schweigen der Schaben

„Die Larven fressen Akazien, Drazänen und ähnliche Pflanzen. ’Kerker des Grauens’, nannte es der Nachrichtensprecher. In dem schlechten Licht waren die Farben, unter ihnen liegt Dunkelheit wie ein Knebel über dem Gesicht oberhalb des Kiefers...“
Dies oder etwas ähnliches waren die Worte, die Ashanti Raven hörte, als sie vom Summen des Telekoms geweckt die Augen öffnete. Sie lauschte zwei Herzschläge lang auf den Klang der Stimme, dann begriff sie, daß es die eigene gewesen war. Mechanisch angelte sie nach dem kleinen Traumtagebuch, das auf ihrem Nachttisch lag, um die Informationen zu notieren, da fiel ihr Blick auf das Display des Telekommunikators direkt neben dem Waffenschrank.
’O Krishna’, dachte sie. ‘Ach du Schreck...’ – „OKAY DA DRINNEN! DIESES BAD IST EROBERT. MIT HOCHGEZOGENEN HOSEN RAUSKOMMEN. DIES IST KEIN DRILL!“
Sie stieg zu ihrer verblüfften Nachbarin unter die Dusche. „Rück schon beiseite, Ardelia, und würdest du mir bitte die Seife da reichen.“
Die beiden Frauen wuschen sich angestrengt und routiniert unter den stechend harten Wasserstrahlen, ohne miteinander zu reden. Ardelia Luxembourg schlug nur einmal die Augen auf, als Raven sich die Haare einschäumte. Dabei hob sich ihr sportlicher Busen, und die schuppenartigen Stellen unterhalb der Brüste wurden sichtbar. Raven hatte vor einigen Monaten mit Beetlejuice experimentiert, um bisher brachliegende Sektoren ihres Gehirns zu aktivieren, damit aber sofort aufgehört, als ihre Brüste zu unnatürlichen Proportionen anschwollen. Ein weiterer Nebeneffekt war eine verstärkte nichthumanoide Pheromonproduktion gewesen, die gewalttätige Atavismen in ihrer Umgebung hervorrief. Deswegen auch die rauhe Haut unter den Brüsten. Chitin.
Man hatte einige ihrer Erinnerungen aus dieser Zeit löschen müssen, aber Luxembourg erinnerte sich noch gut. Die Mutation, die der ‚Käfersaft’ ausgelöst hatte, war nicht nur psychologischer, sondern vor allem auch sexueller Natur gewesen.
’Du weißt immer noch nicht, wie all die Haare unterhalb Deines Nabels verschwunden sind’, durchfuhr es Luxembourg. ‚Glatt, glatt und rosig wie ein Neugeborenes, Raven, und Du wirst es nie erfahren, wenn Krishna Dir gnädig ist. Armes, dummes, dummes Ding.’
Raven trocknete sich eilig unter dem Heißluftgebläse ab, ohne die Blicke ihrer Nachbarin (Bunky) zu bemerken. Ihre Aufmerksamkeit glitt zur Zimmerwand ab. Die Imprinttapete hatte sich online gestellt und spulte die globalen Nachrichten ab. Abwesend überflog sie die schwachleuchtenden Textblöcke, die den Videofeed begleiteten. Kein Audio. Nur grobpixelige Filme, Statistiken, Grafiken. Ganz wie es aussah ein neuer dunkler Tag für Raumschiff Erde.
Das Ohr auf ein Telekomsummen gespitzt, packte sie für einen Aufenthalt über Nacht und stellte ihr gerichtsmedizinisches Köfferchen neben die Tür. Sie vergewisserte sich, daß die Zentrale wußte, daß sie auf ihrem Zimmer war, und verzichtete aufs Frühstück, um am Telekom zu bleiben. Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn eilte sie wortlos mit ihrer Ausrüstung zur Abteilung für Verhaltensforschung hinunter. Bereits von weitem hallte ihr eine heisere, brutale Stimme entgegen. Kim Song.
„Der Psychopath ist der unumschränkte Herr seines eigenen Universums!“, verkündete Kim Song mit der ihm eigenen Art von Totalitarismus. „Er ist Gott. Sein Opfer ist seine Schöpfung, seine Werkzeug, seine Leinwand, auch wenn es ein verängstigtes fünfjähriges Mädchen ist. Sie könnten ihn hier nicht bei einer Lüge ertappen, ganz gleich, was passiert. Er ist der Demiurg! Schlimmstenfalls hätte er sich einfach geirrt. Hoffentlich stimmt das. Er könnte aber seinen Spaß mit ihr haben, dazu ist er ohne weiteres fähig. Haben Sie ihn je kennengelernt?“
Kim Song schüttelte den Kopf und schnaubte Luft aus der Nase, während seine Augen Raven folgten, die sich durch die Sitzreihen schlängelte, bis sie zu einem freien Platz gekommen war. „Nein! Sie kennen ihn nicht. Sie werden ihn nie kennen. Und sie werden ihn nicht verstehen. Wie Gott entzieht er sich der letzten Erklärung. Der Begründung. Sie können sich ihm nur nähern in einem Akt des Glaubens! Alle Theorien versagen vor der Religion der Rasierklinge, schließlich – in welche Typologie wollen Sie Gott einsperren?“ Sein Blick biß sich fest, wie eine zuschnappende Kobra. „‘n Abend, Raven.“
„Hallo“, sagte sie.
„Also, welchem Typus würden Sie ihn zuordnen?“
„Das ist schwierig. Einige Kriterien würden dazu verleiten, ihn dem einen Typus zuzuordnen, andere einem anderen. Das liegt daran, daß die notwendige Strukturalisierung einer Einteilung der Komplexität des Individuums nur annähernd gerecht werden –“ Ihre Nervosität wuchs bei jedem Wort. Als im gleichen Augenblick der Vibrationsalarm ihres Handgelenktelekoms losging, schreckte sie zusammen.
„’Stark vereinfachend’ ist der Begriff, den Sie suchen!“, rief Kim Song triumphierend. „In der Tat ist ein Großteil der Psychologie kindisch, Officer Raven, und die in der Abteilung für Verhaltensforschung praktizierte steht auf einer Stufe mit Phrenologie. Als erstes bekommt die Psychologie kein sehr gutes Material. Gehen Sie zur psychologischen Fakultät eines x-beliebigen College und sehen Sie sich die Studenten und den Lehrkörper an: Amateurnetzfanatiker, Neuro-Uploader, Sensimfans und sonstige Cyber-Enthusiasten, denen es an Persönlichkeit mangelt. Kaum die besten Hirne auf dem Campus. Organisiert und desorganisiert — das zeugt nur so von Inkompetenz.“
„Wie würden Sie denn die Einteilung ändern?“, fragte Raven und schielte nach dem Absender des Gespräches, das ihr Telekom in Standby hielt. Howard? Der Prof?
„Das würde ich gar nicht.“
„Haben Sie denn nicht ein Papier zu gerade diesem Thema im Global Psychological Bulletin veröffnet?“
„Lesen Sie’s lieber noch mal, bevor Sie diskutieren wollen. Aber da wir von Publikationen sprechen, haben Sie meine Artikel über Operationssucht und psychische Läsionen durch die Benutzung von Neuroarchitekten wie Spockshock oder Beetlejuice gelesen?“
Bastard. Raven versuchte, ihren Atemrhythmus normal zu halten. „Ja, sie waren erstklassig“, erwiderte sie.
„Aber bitte, nur zu. Wie oft scheißen Sie?“, fragte Kim Song.
„Oft, aber nicht mitten in der Nacht“, erwiderte Raven.
„Ah –“, sagte er scharf und wandte das Gesicht einen Moment von ihrer Starrköpfigkeit ab. „Das ist Zufall. Zurück zum Thema: Der psychopathische Demiurg kurz vor dem Akt der Kosmogonie, und das ist es ja, eine Weltschöpfung, jeder Mord, ein Punkt, an dem die chaotische Präexistenz vor dem Erscheinen des Gottes durch einen besonderen Akt in geordnete – befriedigende – Bahnen gelenkt wird. Was kommt davor, was macht er grundsätzlich, welchem Zweck dient er durch Töten? Raven?“
„Zorn, soziale Ablehnung, sexueller Frust -“
„Nein.“
„Was dann?“
„Er begehrt. In der Tat begehrt er, gerade das zu sein, was Sie sind. Es ist seine Natur, zu begehren. Wie beginnen wir zu begehren, Ashanti? Suchen wir uns Dinge zum Begehren aus? Bemühen Sie sich um eine Antwort.“
„Nein. Wir -“
„Nein. Genau. Wir beginnen, alles zu begehren, was wir täglich sehen. Spüren Sie nicht, wie jeden Tag bei gelegentlichen Begegnungen Blicke über Sie gleiten, Ashanti? Ich kann kaum verstehen, wie Sie das nicht spüren können. Und wandern Ihre Blicke nicht auch über Dinge?“
Ashanti befeuchtete die plötzlich trocknenen Lippen, als Kim Song seinen brennenden, halb gehäßigen Blick von ihr löste und sich das nächste Opfer aussuchte. Sie beugte sich über ihr Telekom und schaltete frei.
„Professor“, flüsterte, „ich bin in Kim Songs Vorlesung. Entschuldigen Sie die Wartezeit...“
„Alles in Ordnung. Hoffentlich hat der Anruf Ihnen keinen Schrecken eingejagt.“
„Nein.“
Stimmt nicht ganz, dachte Raven.

Cut-up Experiment "Burroughs meets Harris", 2005

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