Sonntag, 10. November 2019

Merkwürdige Äonen [5]



Das Zeitalter der Namenlosen Stadt


The Nameless City“ ist keine große oder vielleicht auch nur besonders gut bekannte Geschichte von H. P. Lovecraft – vielleicht gerade, weil hier viele der Bausteine und Elemente, die er in späteren Werken viel effektiver einsetzte, das erste Mal auftauchen. Die Namenlose Stadt steht noch knapp auf der Schwele zur Imitation größerer Autoren – die Dimensionen und Proportionen sind noch bescheidener und unverzerrter, als sie sich in der Zukunft anbieten mögen. Wurde deswegen die Namenlose Stadt in der weiteren Entwicklung des Mythos nicht weiter berücksichtigt, außer halbherzigen Erwähnungen am Rande? Das Volk, das sie erbaute – „haßverzerrt, grotesk herausgeputzt, halb durchsichtige Teufel einer Rasse, die niemand verwechseln kann – taucht im Mythos nie wieder auf. In der größeren Architektur von Lovecrafts Werk und seinen Epigonen spielt sie, „die über die Welt herrschte, bevor Afrika aus den Wogen auftauchte“ keine Rolle.

Dennoch ist der Gedanke verlockend, vielleicht auch quälend, sich einen Mythos vorzustellen, der sich von hier aus weiterentwickelt hätte, mit dem gleichen Duktus und der Geschwindigkeit, die Lovecraft zu jenen Ruinen tief im Inneren der Arabischen Wüste geführt hatte. Kein Cthulhu-Mythos, nicht mal ein cthulhoider, sondern der Mythos von den Echsen-Königen, die Millionen jahre über diesen Planeten herrschten, bis die Wüste ihre ehemalige Küstenmetropole erstickte; der Mythos von der Alten Rasse, die Meilen unter der Menschenwelt im astralen Lichtmeer der Innenwelt darauf lauert, zurückzukehren.

Wie fremdartig müssen diese Wesen für uns sein, wenn wir ihnen einmal gegenüberstehen – Wesen, die aus einer Zeit stammen, in der sich noch nicht einmal die höheren Teile unseres Gehirns entwickelt hatten?

Der einzelne flüchtige Blick in seltsame Äonen: Welt und Natur sind hilflos gegen solche Angriffe aus den aufgebrochenen Brunnen der Nacht, auch kann kein Zeichen oder Gebet den Walpurgisaufstand des Grauen aufhalten. Und schon sind wir unsicher, wer oder was es ist, was ewig lügen kann.

Sonntag, 3. November 2019

Merkwürdige Äonen [4]



Das Zeitalter der Namenlosen Stadt


Anklänge finden sich auch an das sagenhafte Ägypten aus „The Cats of Ulthar“ (1920), ebenfalls eine Dunsany-Imitation, in der Lovecraft fulminant die Katze als „die Seele des alten Aigyptos“ identifiziert. „Die Sphinx ist ihre Cousine“, preist sie der Autor, „und sie spricht ihre Sprache; aber sie ist viel älter als die Sphinx und erinnert sich an das, was jene vergessen hat.“

An einer anderen Stelle werden die sagenhaften Kolosse des Memnon erwähnt, die Statuen des Amenophis III. beim Luxor, und das Geräusch, das das Öffnen und Schließen der Bronzetür in die „Innere Welt“ verursacht, wird mit dem klagenden Ton verglichen, den die Kolosse einst bei Sonnenaufgang ausstießen. (Erstaunlicherweise ist dieses Phänomen der einzige von Lovecrafts Verweisen, der wissenschaftlich belegbar und nicht einer Traumwelt oder Legende entstammt.) Die Katze mag „älter als die Sphinx“ sein, die Namenlose Stadt aber ist „Urahne der ältesten Pyramide“ – bedrohlich und rätselhaft wie die Frage nach ihren Erbauern. „Furcht sprach aus den zeitbenagten Steinen dieses altersgrauen Überbleibsels der Sintflut“, so heißt es. Es ist offensichtlich – die Namenlose Stadt entstammt seltsamen Äonen.

Ein Detail am Rande, leider nicht von Lovecraft angewandt: Der schreckliche ägyptische Fruchtbarkeitsgott Sobek, er mit dem Krokodilskopf, trug als Beinamen den Titel Djedi, der Dauernde. Wie lang mag er wohl gedauert – und gewartet haben? „Die Altertümlichkeit des Ortes war unerträglich“, so heißt es weiter, „und ich sehnte mich danach, irgendein Zeichen oder eine Vorrichtung aufzufinden, um zu beweisen, daß die Stadt wirklich von menschlichen Wesen errichtet wurde. Es gab in den Ruinen gewisse Proportionen und Dimensionen, die mir nicht behagten.“ Ähnlich werden auch die Hinterlassenschaften anderer außermenschlicher Kulturen in den Folgegeschichten des Mythos beschrieben; hier ist diese Beschreibung aber auch noch ein zartes Echo der Faszination, mit der man früher den Hinterlassenschaften der Pharaonen begegnet ist.