Donnerstag, 19. Mai 2011

Cut-Out :: Die Hexen von Stotham

Beim Schreiben von Texten - gerade in Zeiten des Textverarbeitungsprogrammes - überholt sich der kreative Gedanke manchmal selbst. Fragmente, Formulierungen, ganze Szenen fallen unter den inneren Schneidetisch des Autoren, weil sich der Erzählfluß plötzlich in eine ganz andere Richtung wendet. Folgende Szene habe ich gerade vom Boden aufgehoben, denn wenn mir die beiden Herren im Folgenden auch gut gefallen, passt die Szene bislang nicht so gut in den Erzählfluss, den ich mich bemühe, so lovecraftig-distanziert wie möglich zu halten.

Eine Woche nach dem Fund in der Duren Street stand Richard Wood mit gemischten Gefühlen in dem kleinen, klaustrophobisch engen Büro von Michael Shore, dem Chefredakteur des Stotham Chronicle und hatte gerade eine von Shores lautstarken Gardinenpredigten über sich ergehen lassen. In den Worten von Mr. Shore, um einige unschöne Adjektive gekürzt, gab es keine Geschichte in dem Fall Grandier, die es verdient hätte, gedruckt zu werden. In Woods Westentasche steckte ein brandneues Notizbuch, das bereits zu einem Drittel gefüllt war, aber er hatte mit den Achseln gezuckt.

Mr. Shore war ein kleiner und stets griesgrämiger Mann mit dem Gesicht einer Bulldogge, aber wahrscheinlich der intelligenteste Mensch, den Wood kannte. Gerade deswegen konnte er ihn nicht ausstehen. Im Gegensatz zu Wood, der tief in seinem Herzen immer noch ein Idealist war, machte sich Shore keinerlei Illusionen über die Leserschaft des Chronicle; was sie erwarteten waren Kleinstadtnachrichten für eine Kleinstadt, nichts Bizarres, Groteskes oder Außergewöhnliches. Der gewöhnliche Leser in Stotham las nicht das, was gedruckt wurde; es wurde gedruckt, was gelesen wurde. Man hätte es sicherlich charmanter ausdrücken können als Shore in seiner lautstarken Tirade, aber im Grunde hatte er Shore nur warnen wollen.

Wood nickte vage zustimmend, als Shore zum Ende kam und wieder leiser wurde. Das Notizbuch in seiner Westentasche drückte schwer auf seine Brust, als ob es sich befreien wollte.

„Niemand interessiert sich für einen Außenseiter“, sagte Shore und wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen.

„Natürlich“, sagte Wood und verließ das Büro.

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