Mittwoch, 27. Mai 2009

Flash Fiction :: Tindalos

Manche erzählen, dass sie vom Anfang der Zeit stammen, als die höchste Organisationsform organischen Lebens der Einzeller war. Aber manche sagen auch, dass sie vom Ende der Zeit stammen und die letzte Form der äonenlangen Degeneration und des Zerfalls sind, dem das Leben an sich unterworfen ist – die vollkommne Anpassung des Seins an die Finsternis, in der das Universum sich in sich selbst zusammenfaltet und alle Sterne in einem schrecklichen Spiraltanz in dem endgültigen gigantisches Schwarzes Loch enden, das alles Sein verschlingen wird. An diesem Ereignishorizont wird die gesamte Komplexität der Raumzeit in die Länge gezogen und in sich verdreht – die vier bekannten Dimensionen degenerieren zu imaginären Zahlen – die Geometrie der Naturgesetze wird eine nichteuklidsche werden! Wenn diese Theorien richtig sind, dann muss das Leben zu diesem Zeitpunkt bereits einen Weg gefunden haben, sich entlang der noch intakten Dimensionen zu bewegen. Ein Leben, dass seltsamer und schrecklicher ist als alles, was wir in unserem stabilen Heim aus Länge, Höhe und Tiefe uns ausmalen können – ein leben rückwärts durch die Zeit, rechtwinklig zum Raum, eine Art Anti-Leben, das von dem angezogen wird, was eigentlich abstoßen sollte. Wir können uns nicht ausmalen, was dies für eine Art von Existenz sein könnte – unserem physischen und psychischen Selbst ist es unmöglich, eine solche Position einzunehmen – aber könnten diese mageren, ausgehungerten Wesen sich ausmalen, wie unsere Existenz ist? Würden sie nicht hungern nach all den Qualitäten, die sie im Laufe der gnadenlosen Evolution bis hin zu diesem letzten schrecklichen Entwicklungszustand verloren haben? Nach all dem, was der Welt, entlang derer sie sich bewegen, nicht mehr möglich ist? Ist es nicht eine schreckliche Gravitation, die Leben und Anti-Leben sich aufeinander zu bewegen lässt, angezogen und abgestoßen gleichermaßen, nur sie sich letztendlich gegenseitig auslöschen zu lassen?

Manche beschreiben sie als Hunde, aber das ist ein Irrtum. Jegliche Form des Lebens, die so weit von der unseren entfernt ist wie die ihre, lässt sich schon lange nicht mehr mit einfachen zoologischen Kategorien beschreiben. Diese Namensgebung dient nur dazu, ihre Verdorbenheit in ein für Menschen verständliches Bild zu kleiden – ein Gleichnis, eine Parabel. Sie mit Hunden zu vergleichen, erfolgt ausschließlich aus dem wenigen, was man über ihr Verhalten und die Art ihres Erscheinens weiß. Man sagt, diese Wesen folgen jedem, der ihre Aufmerksamkeit erregt hat, durch die Winkel von Raum und Zeit, und deswegen erscheinen sie am Ende auch immer in irgendeiner Form von Winkel, unsichtbar aber gegenwärtig. So hungern sie nach dem Leben – und hassen es – dass sie mit ihren langen dünnen Gespensterzungen ihren Opfern den prosaischen Garanten des Seins, die Körperflüssigkeiten aussaugen. Das Opfer spürt zuerst keinen Schmerz, wenn die unsichtbaren Zungen sich in seine Schädel oder Nacken bohren. Ein unbeteiligter Betrachter könnte vielleicht sogar sehen, wie plötzlich ein Loch in seinem Körper entsteht, das beständig größer wird, aber nicht blutet. Und dies geschieht solange, bis das Opfer vollkommen ausgesaugt ist und nur noch eine trockene welke Hülle aus Haut ist, die das fleischlose Knochengerüst umgibt. In der Zwischenzeit jedoch hat das Opfer bemerkt, dass etwas Schreckliches mit ihm geschieht. Aber es kann sich nicht wehren. Sein Lebenssaft verströmt ins Unsichtbare, Unbekannte, und er spürt nur wie er mehr und mehr ausgehöhlt wird. Die langen Minuten bis zu seinem Tode müssen das Grauenhafteste sein, was man sich vorstellen kann.

Aus den Notizen zu einer Novelle mit dem Arbeitstitel "Reservoir of Tindalos"

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